442 Richard Wagner in Bayreuth
als eine erkrankte Sprache bezeichnet. So erklärt er: „überall ist hier die Spra-
che erkrankt" (455, 3-4), spricht vom „Druck dieser ungeheuerlichen Krank-
heit" (455, 4-5) und hebt „ihre krankhaft wuchernden Mittel und Formen" her-
vor (455, 31). Wagners zweite Hauptthese, die N. ebenfalls übernimmt, besagt,
dass der Musik in seinem Konzept des „Musikdramas" eine kulturell allgemei-
nere Bedeutung zukomme, weil sie die Defizite der zivilisatorisch depravierten
Sprache aufzuheben vermöge. Vgl. in NK 454, 17-20 auch das ausführliche Zitat
aus der Schrift „Zukunftsmusik", in dem Wagner seine Thesen zusammenfasst.
455, 3-11 [...] überall ist hier die Sprache erkrankt, und auf der ganzen
menschlichen Entwickelung lastet der Druck dieser ungeheuerlichen Krankheit.
Indem die Sprache fortwährend auf die letzten Sprossen des ihr Erreichbaren
steigen musste, um, möglichst ferne von der starken Gefühlsregung, der sie ur-
sprünglich in aller Schlichtheit zu entsprechen vermochte, das dem Gefühl Entge-
gengesetzte, das Reich des Gedankens zu erfassen, ist ihre Kraft durch dieses
übermässige Sich-Ausrecken in dem kurzen Zeiträume der neueren Civilisation
erschöpft worden] Auch hier adaptiert N. zentrale Vorstellungen aus Wagners
Schrift „Zukunftsmusik". Vgl. dazu das Wagner-Zitat in NK 454, 17-20. Wagner
seinerseits geht von Grundgedanken Herders aus, der die Entwicklung der
Sprache während des Zivilisationsprozesses darstellt und dabei den Übergang
von einem genuin sinnlichen und gefühlsintensiven Sprachgebrauch zu immer
größerer begrifflicher Abstraktheit beschreibt. Wagner intendiert eine Rück-
kehr zu ursprünglichen Ausdrucksformen der Sprache und erhofft sich davon
eine Überwindung der zivilisatorischen Depravation. Die Erneuerung der Spra-
che wie der Kultur überhaupt will Wagner durch (seine) Musik vollziehen.
Denn als Ausdruck des „Gefühls" könne die Musik auch die Sprache naturhaft
erneuern. N.s Echo darauf lautet: „diese Musik ist Rückkehr zur Natur" (456,
15). Im Dritten Theil seiner Schrift Oper und Drama äußert sich Wagner unter
dem Titel „Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft" folgendermaßen:
„Wir mußten als unerläßliche Grundlage eines vollendeten künstlerischen Aus-
drucks die Sprache selbst erkennen. Daß wir das Gefühlsverständniß der
Sprache verloren haben, mußten wir als einen durch Nichts zu ersetzenden
Verlust für die dichterische Kundgebung an das Gefühl begreifen" (GSD IV,
210). Anschließend reflektiert Wagner „die Möglichkeit der Wiederbelebung
der Sprache für den künstlerischen Ausdruck" und will „aus dieser, dem Ge-
fühlsverständnisse wieder zugeführten Sprache den vollendeten musikali-
schen Ausdruck" ableiten (ebd.).
455, 14-21 Der Mensch kann sich in seiner Noth vermöge der Sprache nicht mehr
zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefühl-
ten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun
als eine erkrankte Sprache bezeichnet. So erklärt er: „überall ist hier die Spra-
che erkrankt" (455, 3-4), spricht vom „Druck dieser ungeheuerlichen Krank-
heit" (455, 4-5) und hebt „ihre krankhaft wuchernden Mittel und Formen" her-
vor (455, 31). Wagners zweite Hauptthese, die N. ebenfalls übernimmt, besagt,
dass der Musik in seinem Konzept des „Musikdramas" eine kulturell allgemei-
nere Bedeutung zukomme, weil sie die Defizite der zivilisatorisch depravierten
Sprache aufzuheben vermöge. Vgl. in NK 454, 17-20 auch das ausführliche Zitat
aus der Schrift „Zukunftsmusik", in dem Wagner seine Thesen zusammenfasst.
455, 3-11 [...] überall ist hier die Sprache erkrankt, und auf der ganzen
menschlichen Entwickelung lastet der Druck dieser ungeheuerlichen Krankheit.
Indem die Sprache fortwährend auf die letzten Sprossen des ihr Erreichbaren
steigen musste, um, möglichst ferne von der starken Gefühlsregung, der sie ur-
sprünglich in aller Schlichtheit zu entsprechen vermochte, das dem Gefühl Entge-
gengesetzte, das Reich des Gedankens zu erfassen, ist ihre Kraft durch dieses
übermässige Sich-Ausrecken in dem kurzen Zeiträume der neueren Civilisation
erschöpft worden] Auch hier adaptiert N. zentrale Vorstellungen aus Wagners
Schrift „Zukunftsmusik". Vgl. dazu das Wagner-Zitat in NK 454, 17-20. Wagner
seinerseits geht von Grundgedanken Herders aus, der die Entwicklung der
Sprache während des Zivilisationsprozesses darstellt und dabei den Übergang
von einem genuin sinnlichen und gefühlsintensiven Sprachgebrauch zu immer
größerer begrifflicher Abstraktheit beschreibt. Wagner intendiert eine Rück-
kehr zu ursprünglichen Ausdrucksformen der Sprache und erhofft sich davon
eine Überwindung der zivilisatorischen Depravation. Die Erneuerung der Spra-
che wie der Kultur überhaupt will Wagner durch (seine) Musik vollziehen.
Denn als Ausdruck des „Gefühls" könne die Musik auch die Sprache naturhaft
erneuern. N.s Echo darauf lautet: „diese Musik ist Rückkehr zur Natur" (456,
15). Im Dritten Theil seiner Schrift Oper und Drama äußert sich Wagner unter
dem Titel „Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft" folgendermaßen:
„Wir mußten als unerläßliche Grundlage eines vollendeten künstlerischen Aus-
drucks die Sprache selbst erkennen. Daß wir das Gefühlsverständniß der
Sprache verloren haben, mußten wir als einen durch Nichts zu ersetzenden
Verlust für die dichterische Kundgebung an das Gefühl begreifen" (GSD IV,
210). Anschließend reflektiert Wagner „die Möglichkeit der Wiederbelebung
der Sprache für den künstlerischen Ausdruck" und will „aus dieser, dem Ge-
fühlsverständnisse wieder zugeführten Sprache den vollendeten musikali-
schen Ausdruck" ableiten (ebd.).
455, 14-21 Der Mensch kann sich in seiner Noth vermöge der Sprache nicht mehr
zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefühl-
ten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun