452 Richard Wagner in Bayreuth
der Musikästhetik in Schopenhauers Philosophie vgl. Neymeyr 1996a, 335-
349.)
458, 3-9 Durch diese Seelen verlangt die Musik nach ihrer ebenmässigen
Schwester, der Gymnastik, als nach ihrer nothwendigen Gestaltung im Reiche
des Sichtbaren: im Suchen und Verlangen nach ihr wird sie zur Richterin über
die ganze verlogene Schau- und Scheinwelt der Gegenwart. Diess ist die zweite
Antwort Wagner's auf die Frage, was die Musik in dieser Zeit zu bedeuten habe.]
Während die Musik unmittelbar das Gefühl anspricht, vermittelt die von der
Musik inspirierte theatralische Darstellung die plastische Wahrnehmung an
das Auge. Die Gymnastik als ein körperliches Training durch rhythmische
Bewegung korreliert N. hier mit der visuellen Manifestation des musikalischen
Rhythmus. Vgl. hierzu Wagners Schrift Über musikalische Kritik: „[...] das Volk,
welches den Namen ,Musik' erfand, begriff unter ihm nicht nur Dicht-
kunst und Tonkunst, sondern alle künstlerische Kundgebung des inneren
Menschen überhaupt [...] Alle Erziehung der athenischen Jugend zerfiel dem-
nach in zwei Theile: in Musik und - Gymnastik, d. h. den Inbegriff all' der
Künste, die auf den vollendetsten Ausdruck durch die leibliche Darstellung
selbst Bezug haben. In der ,Musik' theilte sich der Athener somit an das Ge-
hör, in der Gymnastik an das Auge mit, und nur der in Musik und Gymnastik
gleich Gebildete, galt ihnen überhaupt als ein wirklich Gebildeter [...] Um
ganze Künstler zu sein, hätten wir uns nun aus der ,Musik' zur , Gymnastik',
d.h. zur wirklichen, leiblich sinnlichen Darstellungskunst, zu der Kunst, die
das von uns Gewollte erst zu einem wirklich Gekonnten macht, zu wenden"
(GSD V, 59-63). Vgl. auch charakteristische Aussagen in Richard Wagners
Schrift Oper und Drama: „Die Gebärde des Leibes, wie sie sich in der bedeu-
tungsvollen Bewegung der ausdrucksfähigsten Glieder und endlich der Ge-
sichtsmienen als von einer inneren Empfindung bestimmt kundgiebt [...] Die
Mittheilung eines Gegenstandes [...], den die Wortsprache nicht zu völliger
Überzeugung an das nothwendig auch zu erregende Gefüh1 kundgeben kann,
also ein Ausdruck, der sich in den Affekt ergießt, bedarf durchaus der Verstär-
kung durch eine begleitende Gebärde" (GSD IV, 174-175).
Wagners Darlegungen lassen Korrespondenzen mit der Musikmetaphysik
in der Welt als Wille und Vorstellung I erkennen. Hier begründet Schopenhauer
die Repräsentation unterschiedlicher Emotionen und Seelenzustände „gewis-
sermaaßen in abstracto", also in einer Art von „Quintessenz" (WWV I, § 52,
Hü 309), damit, dass die Musik „das innere Wesen, [...] den Willen selbst"
(WWV I, § 52, Hü 308), zum Ausdruck bringe (vgl. NK 457, 31 - 458, 2). An-
schließend erklärt Schopenhauer, durch das intuitive Verstehen dieser „Quint-
essenz" sei es bedingt, „daß unsere Phantasie so leicht durch sie erregt wird
und nun versucht, jene ganz unmittelbar zu uns redende, unsichtbare und
der Musikästhetik in Schopenhauers Philosophie vgl. Neymeyr 1996a, 335-
349.)
458, 3-9 Durch diese Seelen verlangt die Musik nach ihrer ebenmässigen
Schwester, der Gymnastik, als nach ihrer nothwendigen Gestaltung im Reiche
des Sichtbaren: im Suchen und Verlangen nach ihr wird sie zur Richterin über
die ganze verlogene Schau- und Scheinwelt der Gegenwart. Diess ist die zweite
Antwort Wagner's auf die Frage, was die Musik in dieser Zeit zu bedeuten habe.]
Während die Musik unmittelbar das Gefühl anspricht, vermittelt die von der
Musik inspirierte theatralische Darstellung die plastische Wahrnehmung an
das Auge. Die Gymnastik als ein körperliches Training durch rhythmische
Bewegung korreliert N. hier mit der visuellen Manifestation des musikalischen
Rhythmus. Vgl. hierzu Wagners Schrift Über musikalische Kritik: „[...] das Volk,
welches den Namen ,Musik' erfand, begriff unter ihm nicht nur Dicht-
kunst und Tonkunst, sondern alle künstlerische Kundgebung des inneren
Menschen überhaupt [...] Alle Erziehung der athenischen Jugend zerfiel dem-
nach in zwei Theile: in Musik und - Gymnastik, d. h. den Inbegriff all' der
Künste, die auf den vollendetsten Ausdruck durch die leibliche Darstellung
selbst Bezug haben. In der ,Musik' theilte sich der Athener somit an das Ge-
hör, in der Gymnastik an das Auge mit, und nur der in Musik und Gymnastik
gleich Gebildete, galt ihnen überhaupt als ein wirklich Gebildeter [...] Um
ganze Künstler zu sein, hätten wir uns nun aus der ,Musik' zur , Gymnastik',
d.h. zur wirklichen, leiblich sinnlichen Darstellungskunst, zu der Kunst, die
das von uns Gewollte erst zu einem wirklich Gekonnten macht, zu wenden"
(GSD V, 59-63). Vgl. auch charakteristische Aussagen in Richard Wagners
Schrift Oper und Drama: „Die Gebärde des Leibes, wie sie sich in der bedeu-
tungsvollen Bewegung der ausdrucksfähigsten Glieder und endlich der Ge-
sichtsmienen als von einer inneren Empfindung bestimmt kundgiebt [...] Die
Mittheilung eines Gegenstandes [...], den die Wortsprache nicht zu völliger
Überzeugung an das nothwendig auch zu erregende Gefüh1 kundgeben kann,
also ein Ausdruck, der sich in den Affekt ergießt, bedarf durchaus der Verstär-
kung durch eine begleitende Gebärde" (GSD IV, 174-175).
Wagners Darlegungen lassen Korrespondenzen mit der Musikmetaphysik
in der Welt als Wille und Vorstellung I erkennen. Hier begründet Schopenhauer
die Repräsentation unterschiedlicher Emotionen und Seelenzustände „gewis-
sermaaßen in abstracto", also in einer Art von „Quintessenz" (WWV I, § 52,
Hü 309), damit, dass die Musik „das innere Wesen, [...] den Willen selbst"
(WWV I, § 52, Hü 308), zum Ausdruck bringe (vgl. NK 457, 31 - 458, 2). An-
schließend erklärt Schopenhauer, durch das intuitive Verstehen dieser „Quint-
essenz" sei es bedingt, „daß unsere Phantasie so leicht durch sie erregt wird
und nun versucht, jene ganz unmittelbar zu uns redende, unsichtbare und