460 Richard Wagner in Bayreuth
behauptet N. hier einen Antagonismus zwischen Horaz und Schopenhauer und
verschiebt die Akzentsetzung dabei zugleich auf den Bereich der Theorie. Rele-
vant ist dabei die Affinität von ,bewundern' und ,staunen' durch die Etymolo-
gie der lateinischen Verben ,mirari' und ,admirari‘ (,staunen' und ,bewun-
dern'): Schon in der antiken Philosophie galt das thaumäzein (Oaupd^tv), das
Staunen über die Phänomene der Welt als Ausgangspunkt für philosophische
Reflexion. Einschlägige Belege dafür finden sich bei Platon (Theaitetos 155 d
2-4) und Aristoteles (Metaphysik A, 983 a 12-13). Vgl. dazu NK 3/1, 291-293 (mit
einem etymologisch-semantischen Sprachvergleich zur Kritik an N.s Argumen-
tation im Text 207 der Morgenröthe).
462, 21-23 wir wollen die Untersuchung darüber den künftigen Richtern zu-
schieben, welche die modernen Menschen einmal durch ihr Sieb raiten werden]
Durch ihr Sieb schütteln, also aussieben. Das Verbum „raiten" gibt es nicht. Es
handelt sich um einen Setzerfehler oder um ein Versehen von N. selbst. In
dem hier gemeinten Sinn ist das Verbum von einer speziellen Form des Wortes
„Reiter" abgeleitet. Der Eintrag in Grimms Deutschem Wörterbuch lautet (Bd. 8,
1893, Sp. 780): „Reiter, f. cribrum, grobes sieb, besonders zum reinigen des
getreides". Im Folgenden findet sich die Erläuterung (Sp. 781): „in dieser Be-
deutung eines groben siebes wird das wort, so weit es noch lebt, noch heute
gebraucht, doch nicht durchgängig" (anschließend folgen Belege). Das vom
Substantiv ,Reiter' abgeleitete Verbum „reitern" lässt sich bis ins Althochdeut-
sche und Mittelhochdeutsche zurückverfolgen. Vgl. dazu in Grimms Deutschem
Wörterbuch (Sp. 784): „reitern, verb. durch die reiter schlagen, durch ein gro-
bes sieb laufen lassen, reinigen, auslesen". Dort finden sich auch zahlreiche
Hinweise auf frühere Wörterbücher (etwa von Adelung und Campe) sowie Be-
legstellen.
Den Subtext für den von „künftigen Richtern" vollzogenen Ausleseprozess,
bei dem diese „die modernen Menschen einmal durch ihr Sieb raiten werden"
(462, 22-23), bildet ein biblisches Gleichnis des Jüngsten Gerichts: „Und er hat
seine Wurfschaufel in der Hand: Er wird seine Tenne fegen und den Weizen in
seine Scheuern sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feu-
er" (Matthäus 3, 12). Diese biblische Vorstellung vom reinigenden Akt des Ver-
brennens verbindet N. in der Geburt der Tragödie mit einer Allusion auf die
Feuer-Lehre Heraklits, indem er den „läuternde[n] Feuergeist" hervorhebt
(KSA 1, 128, 3) und zugleich auf das stoische Konzept einer kathartischen Ekpy-
rosis anspielt. Heraklit betrachtet das Feuer als Urprinzip, das durch die zykli-
sche Abfolge von Aufflammen und Verlöschen das Entstehen und Vergehen
des Kosmos verursache. Im 30. Fragment (Diels/Kranz) heißt es: „Koopov
tovöe, tov auTov dndvTwv, oute Ttq Oewv oute dvOpwnwv EnoipoEv, ä\X qv
dei Kai eotlv Kai Verrat nüp de^wov" („Diese Weltordnung, dieselbige für alle
behauptet N. hier einen Antagonismus zwischen Horaz und Schopenhauer und
verschiebt die Akzentsetzung dabei zugleich auf den Bereich der Theorie. Rele-
vant ist dabei die Affinität von ,bewundern' und ,staunen' durch die Etymolo-
gie der lateinischen Verben ,mirari' und ,admirari‘ (,staunen' und ,bewun-
dern'): Schon in der antiken Philosophie galt das thaumäzein (Oaupd^tv), das
Staunen über die Phänomene der Welt als Ausgangspunkt für philosophische
Reflexion. Einschlägige Belege dafür finden sich bei Platon (Theaitetos 155 d
2-4) und Aristoteles (Metaphysik A, 983 a 12-13). Vgl. dazu NK 3/1, 291-293 (mit
einem etymologisch-semantischen Sprachvergleich zur Kritik an N.s Argumen-
tation im Text 207 der Morgenröthe).
462, 21-23 wir wollen die Untersuchung darüber den künftigen Richtern zu-
schieben, welche die modernen Menschen einmal durch ihr Sieb raiten werden]
Durch ihr Sieb schütteln, also aussieben. Das Verbum „raiten" gibt es nicht. Es
handelt sich um einen Setzerfehler oder um ein Versehen von N. selbst. In
dem hier gemeinten Sinn ist das Verbum von einer speziellen Form des Wortes
„Reiter" abgeleitet. Der Eintrag in Grimms Deutschem Wörterbuch lautet (Bd. 8,
1893, Sp. 780): „Reiter, f. cribrum, grobes sieb, besonders zum reinigen des
getreides". Im Folgenden findet sich die Erläuterung (Sp. 781): „in dieser Be-
deutung eines groben siebes wird das wort, so weit es noch lebt, noch heute
gebraucht, doch nicht durchgängig" (anschließend folgen Belege). Das vom
Substantiv ,Reiter' abgeleitete Verbum „reitern" lässt sich bis ins Althochdeut-
sche und Mittelhochdeutsche zurückverfolgen. Vgl. dazu in Grimms Deutschem
Wörterbuch (Sp. 784): „reitern, verb. durch die reiter schlagen, durch ein gro-
bes sieb laufen lassen, reinigen, auslesen". Dort finden sich auch zahlreiche
Hinweise auf frühere Wörterbücher (etwa von Adelung und Campe) sowie Be-
legstellen.
Den Subtext für den von „künftigen Richtern" vollzogenen Ausleseprozess,
bei dem diese „die modernen Menschen einmal durch ihr Sieb raiten werden"
(462, 22-23), bildet ein biblisches Gleichnis des Jüngsten Gerichts: „Und er hat
seine Wurfschaufel in der Hand: Er wird seine Tenne fegen und den Weizen in
seine Scheuern sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feu-
er" (Matthäus 3, 12). Diese biblische Vorstellung vom reinigenden Akt des Ver-
brennens verbindet N. in der Geburt der Tragödie mit einer Allusion auf die
Feuer-Lehre Heraklits, indem er den „läuternde[n] Feuergeist" hervorhebt
(KSA 1, 128, 3) und zugleich auf das stoische Konzept einer kathartischen Ekpy-
rosis anspielt. Heraklit betrachtet das Feuer als Urprinzip, das durch die zykli-
sche Abfolge von Aufflammen und Verlöschen das Entstehen und Vergehen
des Kosmos verursache. Im 30. Fragment (Diels/Kranz) heißt es: „Koopov
tovöe, tov auTov dndvTwv, oute Ttq Oewv oute dvOpwnwv EnoipoEv, ä\X qv
dei Kai eotlv Kai Verrat nüp de^wov" („Diese Weltordnung, dieselbige für alle