Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0488
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar UB IV WB 6, KSA 1, S. 462 461

Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war im-
mer und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer"). Vgl. dazu detaillierter
NK 1/1, 355-356.
In UB IV WB thematisiert N. wenig später das „kommende Gerichtsverfah-
ren, mit dem unsere Zeit heimgesucht wird" (463, 8-9). Derartige eschatolo-
gisch ausgerichtete Vorstellungen von einem künftigen „Gerichtsverfahren",
in dem der „Richter" analog zum Jüngsten Gericht einen absoluten Anspruch
repräsentiert, sind für N.s Frühwerk charakteristisch. So betont N. zuvor bereits
in UB III SE, Schopenhauer habe „eine furchtbare überweltliche Scene des Ge-
richts" gesehen, „in der alles Leben, auch das höchste und vollendete, gewo-
gen und zu leicht befunden wurde: er hatte den Heiligen als Richter des Da-
seins gesehn" (KSA 1, 410, 22-25). Mit der Formulierung „gewogen und zu
leicht befunden" spielt N. auf das Alte Testament der Bibel an (Buch Daniel 5,
27). Vgl. auch eine spätere Textpartie in UB III SE (KSA 1, 425, 7-17), in der die
Philosophie nach N.s Überzeugung als ein „Tribunal" fungieren soll (KSA 1,
425, 13). Einen anderen, lebensphilosophischen Akzent setzt N., wenn er schon
in der Geburt der Tragödie prognostiziert: „alles, was wir jetzt Cultur, Bildung,
Civilisation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus er-
scheinen müssen" (KSA 1, 128, 5-7). In UB II HL entfaltet N. eschatologische
Vorstellungen von „Richter" und „Gericht" im Zusammenhang mit seinem
Konzept einer ,kritischen Historie', die im Dienste des Lebens stehen soll (vgl.
KSA 1, 269, 8 - 270, 30 sowie KSA 1, 286, 8 - 287, 28). Zu den relevanten Beleg-
stellen in UB II HL vgl. die unterschiedlichen kulturhistorischen Kontextuali-
sierungen des Gerichtstopos in NK 286, 13-14 und NK 287, 1 sowie in NK 304,
10-13 und NK 308, 19-26.
462, 23-32 gemein ist diess Zeitalter; [...] wenn es nun aber noch die ganze
Kostbarkeit vergangener Weisheit und Kunst sich angeeignet hat und in diesem
reichsten aller Gewänder einhergeht, so zeigt es ein unheimliches Selbstbewusst-
sein über seine Gemeinheit darin, dass es jenen Mantel nicht braucht, um sich
zu wärmen, sondern nur um über sich zu täuschen. Die Noth, sich zu verstellen
und zu verstecken, erscheint ihm dringender, als die, nicht zu erfrieren.] Eine
frühere Textfassung dieser kritischen Zeitdiagnose lautet: „weil es aber noch
die ganze Weisheit und Kunst der Vergangenheit sich mit diebischer Gewandt-
heit angemaßt [?] hat und in diesem kostbarsten aller Gewänder einherstolzirt,
so zeigt sich seine Gemeinheit darin, daß es diesen Mantel nicht zu tra-
gen versteht. Ungehörig! - das sagt man sich, wenn man die Kunstfreunde
sieht" (KSA 14, 88).
462, 33 die Weisheit der Inder und Griechen] Bereits in UB III SE spricht N. von
der „indischen Philosophie" (KSA 1, 350, 26) und nimmt dadurch implizit auch
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften