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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0557
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530 Richard Wagner in Bayreuth

wegs nur als Begleiterscheinung in der „zartesten Modulation" vorstellt. Dem-
entsprechend betrachtet N. in der Geburt der Tragödie die „Gebärdensprache"
(KSA 1, 33, 13) als ein wichtiges Element des „dionysischen Dithyrambus"
(KSA 1, 33, 27), den er zugleich auf Wagners Ausdruckswillen hin transparent
macht: „Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue
Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur
die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle
Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde" (KSA 1, 33, 31 - 34, 1). - In Der
Fall Wagner rechnet N. später allerdings polemisch mit dem ,Schauspieler'
Wagner ab. Hier trifft das Verdikt auch die ,Gebärde', die N. nun nicht mehr
für eine bloß „begleitende" Ausdrucksform hält, sondern für das primäre Wir-
kungsmittel: „Bei Wagner steht im Anfang die Hallucination: nicht von Tönen,
sondern von Gebärden. Zu ihnen sucht er erst die Ton-Semiotik" (KSA 6, 27,
33-28, 1). Wenig später erklärt N.: „Der Schauspieler Wagner ist ein Tyrann,
sein Pathos wirft jeden Geschmack, jeden Widerstand über den Haufen. - Wer
hat diese Überzeugungskraft der Gebärde, wer sieht so bestimmt, so zu aller-
erst die Gebärde!" (KSA 6, 29, 27-30).
490, 10-13 so wie diese vollendete Leiblichkeit in der Musik des Drama's schon
vorgebildet liegt. Diesem Führer folgend, wird zuletzt das Auge des plastischen
Künstlers die Wunder einer neuen Schauwelt sehen] Begriffe mit Affinität zum
Bereich des Leibes und der Leiblichkeit finden sich wiederholt auch in
Wagners theoretischen Schriften. Mit dem Begriff des Führers signalisiert N.,
dass der Musik gegenüber dem Bereich „des plastischen Künstlers" primäre
Bedeutung zukommt. Denn die Gestaltung der Bühnenschauwelt soll sich an
der Musik orientieren und diese in der Wirkung unterstützen.
490, 16-17 welcher wie Aeschylus einer kommenden Kunst den Weg zeigt] Ai-
schylos, der erste der drei großen griechischen Tragiker, hatte durch seine
dramaturgischen Neuerungen für die späteren Tragiker eine wegweisende Be-
deutung. Nicht nur Wagner, sondern auch N. betrachtet Aischylos als den ur-
sprünglichsten der griechischen Tragödiendichter, weil er dem ,Geist der Mu-
sik' näher stehe als Sophokles und Euripides. - N. greift auf Kategorien
Schopenhauers zurück, wenn er in der Geburt der Tragödie im Hinblick auf
den Prometheus des Aischylos erklärt: „Das Wunderbarste [...] ist aber der tiefe
aeschyleische Zug nach Gerechtigkeit: das unermessliche Leid des kühnen
,Einzelnen' auf der einen Seite, und die göttliche Noth, ja Ahnung einer Götter-
dämmerung auf der andern, die zur Versöhnung, zum metaphysischen Eins-
sein zwingende Macht jener beiden Leidenswelten [...]. Das herrliche ,Können'
des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu gering bezahlt ist, der
herbe Stolz des Künstlers - das ist Inhalt und Seele der aeschyleischen Dich-
 
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