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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0582
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Stellenkommentar UB IV WB 10, KSA 1, S. 502 555

ein instinktiver Trieb" bestimmend. „Die Nöthigung zu anhaltender Reflexion
wird bei ihm erst da eintreten, wo er auf eine große Behinderung in der Anwen-
dung der ihm nöthigen Ausdrucksmittel stößt, also da, wo ihm die Mittel der
Darstellung seiner künstlerischen Absicht anhaltend erschwert oder gar ver-
wehrt sind" (GSD VII, 88-89).
N. betont allerdings bereits in einem nachgelassenen Notat aus dem Som-
mer 1875 eine charakteristische Inkonsequenz: Ihm erscheint Wagners Plädo-
yer für Volkstümlichkeit „höchst merkwürdig, da er als Schriftsteller nicht ein-
fach, nicht direkt ist, sondern sich müht, eine ihm unnatürliche Sprache zu
sprechen. Er spricht die der höchsten Bildung, aber der alten, un-
volksthümlichen, gelehrt-abstrakten; sobald er in sein Element
kommt, wirft er dies alles von sich" (NL 1875, 11 [9], KSA 8, 193).
Indem N. die Schicht der Gebildeten hier mit dem Volk als dem eigentli-
chen Publikum von Wagners Musik kontrastiert, schließt er an die Überzeu-
gung des Komponisten an, der in seinen theoretischen Werken der bloß ange-
eigneten Bildung die genuine natürliche Empfindung gegenüberstellt. In seiner
Schrift Oper und Drama erklärt Richard Wagner: „Unter dem Publikum kann
ich nie die Einzelnen verstehen, die vom abstrakten Kunstverständnisse aus
sich mit Erscheinungen befreunden, die auf der Bühne nicht verwirklicht wer-
den. Unter dem Publikum verstehe ich nur die Gesammtheit der Zuschauer,
denen ohne spezifisch gebildeten Kunstverstand das vorgeführte Drama zum
vollständigen, gänzlich mühelosen Gefühlsverständniß kommen soll,
die in ihrer Theilnahme daher nie auf die Verwendung der Kunstmittel, son-
dern einzig auf den durch sie verwirklichten Gegenstand der Kunst, das
Drama, als vorgeführte allverständlichte [sic] Handlung, gelenkt
werden sollen. Das Publikum, das demnach ohne alle Kunstverstandesanstren-
gung genießen soll, wird in seinen Ansprüchen durchaus beeinträchtigt,
wenn die Darstellung - aus den angegebenen Gründen - die dramatische Ab-
sicht nicht verwirklicht, und es ist vollkommen in seinem Rechte, wenn es
einer solchen Darstellung den Rücken wendet. Dem Kunstverständigen dage-
gen, der die unverwirklichte dramatische Absicht aus dem Textbuche und aus
der kritischen Deutung der Musik - wie sie ihm von unseren Orchestern
gewöhnlich gut ausgeführt zu Ohren kommt - sich, der Darstellung zum Trot-
ze, als verwirklicht zu denken bemüht, ist eine geistige Anstrengung zugemu-
thet, die ihm allen Genuß des Kunstwerkes rauben, und Das zur abspannen-
den Arbeit machen muß, was ihn unwillkürlich erfreuen und erheben sollte"
(GSD IV, 222-223, Anm.). - N. hebt in einer früheren Textpassage von UB IV WB
die Intention Wagners hervor, unter Einbeziehung von „anderen Künsten"
schließlich „mit hundertfacher Deutlichkeit sich mitzutheilen und sich Ver-
ständniss, volksthümlichstes Verständniss zu erzwingen" (468, 5-7).
 
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