Stellenkommentar UB IV WB 10, KSA 1, S. 504-505 563
sehen, einer sozialen Gemeinschaft oder eines Ortes angesehen. - In UB IV WB
verwendet N. den Begriff ,Genius' bereits in einer früheren Textpartie, wenn er
im Hinblick auf Wagner von der „Aufgabe" spricht, „die sein Genius ihm ge-
stellt hat" (448, 2). In UB III SE und UB IV WB beschreibt er Schopenhauer und
Wagner als paradigmatische Genies und betrachtet auch deren Unzeitgemäß-
heit als Qualitätssignum. Gemäß Schopenhauers Überzeugung vom Primat der
Naturanlage (vgl. z. B. Ueber die Universitäts-Philosophie: PP I, Hü 209-210) er-
klärt N. in UB III SE, der „Grundstoff" des Individuums sei „etwas durchaus
Unerziehbares und Unbildbares" (KSA 1, 341, 3-4). Mehrmals reflektiert er in
UB III SE über die Voraussetzungen für die „Erzeugung des Genius" (KSA 1,
358, 12; 386, 21-22; 387, 13-14). Die Aufgabe des genialen Künstlers sieht N.
analog zu Schopenhauer darin, seine individuelle Begabung zu entwickeln
und sie zugunsten der ganzen Menschheit kreativ zu nutzen.
Bereits Schopenhauer reflektiert in der Welt als Wille und Vorstellung I die
etymologische Wurzel des Begriffs ,Genius': Er betont, die Disposition zur „wil-
lensfreien" Erkenntnis sei nur vorübergehend wirksam, so dass man „von jeher
das Wirken des Genius als eine Inspiration" ansah, ja sogar „als das Wirken
eines vom Individuo selbst verschiedenen übermenschlichen Wesens [...], das
nur periodisch jenes in Besitz nimmt" (WWV I, § 36, Hü 222). Außer der Philo-
sophie betrachtet Schopenhauer die „bildende Kunst, Poesie oder Musik" als
„das Werk des Genius" (WWV I, § 36, Hü 217). Es verdanke sich der Erkenntnis
der Idee, die „nur von dem ächten Genius" oder von dem kurzzeitig „bis zur
Genialität Begeisterten" erlangt werden könne (WWV I, § 49, Hü 277). Zur wil-
lensfreien Tätigkeit des Intellekts als conditio sine qua non von Genialität vgl.
die Schopenhauer-Belege in NK 448, 2. Zur Thematik der Genialität bei Scho-
penhauer vgl. auch NK 358, 29-33 und NK 386, 21-22. (Zu Schopenhauers Ge-
nieästhetik im Vergleich mit Konzepten N.s vgl. Neymeyr 1995b, 199-217 und
1996a, 265-286.) - In den Parerga und Paralipomena II stellt Schopenhauer den
genialen Menschen gedanklich in den Kontext der Passionsgeschichte Christi,
indem er die Zukunftsorientierung des Genies bei seinem Schaffen mit der me-
taphorischen Vorstellung einer „Dornenkrone" verbindet, die dem Genie durch
„eine besser urtheilende Nachwelt [...] einst zum Lorbeerkranze ausschlagen
soll" (PP II, Kap. 3, § 60, Hü 92). N. übernimmt dieses Bild für UB IV WB (498,
18-30), beruft sich dabei explizit auf Schopenhauer und zitiert wörtlich die
Textpassage aus den Parerga und Paralipomena II. Vgl. dazu NK 498, 18-30.
Für den frühen N. verbindet sich mit der von Schopenhauer übernomme-
nen Vorstellung des ,Genius' immer auch der konkrete Gedanke an Wagner,
der selbst ein dezidierter Schopenhauer-Anhänger war. Schon in seinem ersten
Brief an Wagner vom 22. Mai 1869 apostrophiert N. den ,verehrten Meister' so-
gar dreimal als „Genius" (wenn auch indirekt); zugleich weist N. dort auf Wag-
sehen, einer sozialen Gemeinschaft oder eines Ortes angesehen. - In UB IV WB
verwendet N. den Begriff ,Genius' bereits in einer früheren Textpartie, wenn er
im Hinblick auf Wagner von der „Aufgabe" spricht, „die sein Genius ihm ge-
stellt hat" (448, 2). In UB III SE und UB IV WB beschreibt er Schopenhauer und
Wagner als paradigmatische Genies und betrachtet auch deren Unzeitgemäß-
heit als Qualitätssignum. Gemäß Schopenhauers Überzeugung vom Primat der
Naturanlage (vgl. z. B. Ueber die Universitäts-Philosophie: PP I, Hü 209-210) er-
klärt N. in UB III SE, der „Grundstoff" des Individuums sei „etwas durchaus
Unerziehbares und Unbildbares" (KSA 1, 341, 3-4). Mehrmals reflektiert er in
UB III SE über die Voraussetzungen für die „Erzeugung des Genius" (KSA 1,
358, 12; 386, 21-22; 387, 13-14). Die Aufgabe des genialen Künstlers sieht N.
analog zu Schopenhauer darin, seine individuelle Begabung zu entwickeln
und sie zugunsten der ganzen Menschheit kreativ zu nutzen.
Bereits Schopenhauer reflektiert in der Welt als Wille und Vorstellung I die
etymologische Wurzel des Begriffs ,Genius': Er betont, die Disposition zur „wil-
lensfreien" Erkenntnis sei nur vorübergehend wirksam, so dass man „von jeher
das Wirken des Genius als eine Inspiration" ansah, ja sogar „als das Wirken
eines vom Individuo selbst verschiedenen übermenschlichen Wesens [...], das
nur periodisch jenes in Besitz nimmt" (WWV I, § 36, Hü 222). Außer der Philo-
sophie betrachtet Schopenhauer die „bildende Kunst, Poesie oder Musik" als
„das Werk des Genius" (WWV I, § 36, Hü 217). Es verdanke sich der Erkenntnis
der Idee, die „nur von dem ächten Genius" oder von dem kurzzeitig „bis zur
Genialität Begeisterten" erlangt werden könne (WWV I, § 49, Hü 277). Zur wil-
lensfreien Tätigkeit des Intellekts als conditio sine qua non von Genialität vgl.
die Schopenhauer-Belege in NK 448, 2. Zur Thematik der Genialität bei Scho-
penhauer vgl. auch NK 358, 29-33 und NK 386, 21-22. (Zu Schopenhauers Ge-
nieästhetik im Vergleich mit Konzepten N.s vgl. Neymeyr 1995b, 199-217 und
1996a, 265-286.) - In den Parerga und Paralipomena II stellt Schopenhauer den
genialen Menschen gedanklich in den Kontext der Passionsgeschichte Christi,
indem er die Zukunftsorientierung des Genies bei seinem Schaffen mit der me-
taphorischen Vorstellung einer „Dornenkrone" verbindet, die dem Genie durch
„eine besser urtheilende Nachwelt [...] einst zum Lorbeerkranze ausschlagen
soll" (PP II, Kap. 3, § 60, Hü 92). N. übernimmt dieses Bild für UB IV WB (498,
18-30), beruft sich dabei explizit auf Schopenhauer und zitiert wörtlich die
Textpassage aus den Parerga und Paralipomena II. Vgl. dazu NK 498, 18-30.
Für den frühen N. verbindet sich mit der von Schopenhauer übernomme-
nen Vorstellung des ,Genius' immer auch der konkrete Gedanke an Wagner,
der selbst ein dezidierter Schopenhauer-Anhänger war. Schon in seinem ersten
Brief an Wagner vom 22. Mai 1869 apostrophiert N. den ,verehrten Meister' so-
gar dreimal als „Genius" (wenn auch indirekt); zugleich weist N. dort auf Wag-