572 Richard Wagner in Bayreuth
der menschlichen Handlungen", nämlich Egoismus, Bosheit und Mitleid
(Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü 209-210). Vgl. NK 459, 24-30.
Allerdings problematisiert N. Wagners Prägung durch Schopenhauer spä-
ter in der Fröhlichen Wissenschaft. Dort erklärt er im Text 99 „Die Anhänger
Schopenhauer's", Wagner habe sich von der „Bezauberung" durch
Schopenhauer (KSA 3, 455, 19) dazu verführen lassen, „seine ganze Kunst [...]
als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerschen Philosophie" zu ver-
stehen (KSA 3, 455, 22-24). So sei es dazu gekommen, dass er „Schopenhauer's
Lehre aus seinen Gestalten herauslas und mit ,Wille', Genie' und ,Mitleid' sich
selber zu formuliren begann" (KSA 3, 455, 9-10). Nach der Ansicht, die N. in
der Fröhlichen Wissenschaft vertritt, geht jedoch nichts „so sehr wider den
Geist Schopenhauer's, als das eigentlich Wagnerische an den Helden Wag-
ner's", mithin „die Unschuld der höchsten Selbstsucht" sowie „der Glaube an
die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Worte, das Sieg-
friedhafte im Antlitze seiner Helden" (KSA 3, 455, 11-16).
508, 29-33 jetzt erst geschieht das früher Ersehnteste: der freie furchtlose
Mensch erscheint, er ist im Widerspruche gegen alles Herkommen entstanden;
seine Erzeuger büssen es [...], aber Siegfried lebt] Gemäß der Konzeption von
Wagners Oper Siegfried entsteht der freie Mensch, der die Problematik über-
kommener Machtverhältnisse zu überwinden vermag, erst mit Siegfried, dem
Sohn aus der ehebrecherischen Inzestbeziehung zwischen Siegmund und Sieg-
linde, die ihrerseits von Wotan außerehelich gezeugt wurden. Im zweiten Akt
der Walküre wurde Siegfrieds Vater Siegmund durch Sieglindes Ehemann Hun-
ding im Zweikampf erschlagen, weil Fricka, die Hüterin der Ehe, den Norm-
bruch des Zwillingspaars bestrafen wollte und ihre eigenen Wünsche gegen-
über ihrem Ehemann Wotan durchsetzen konnte. Im ersten Akt der Siegfried-
Oper wird der Titelheld durch den Zwerg Mime, der ihn aufgezogen hat, über
die Vorgeschichte aufgeklärt: Siegfrieds Mutter Sieglinde starb nach seiner Ge-
burt in der Schmiede Mimes. Die außergewöhnliche Furchtlosigkeit Siegfrieds
geht aus mehreren Sequenzen der Oper hervor, insbesondere aus seiner muti-
gen Haltung gegenüber dem Drachen, den er im zweiten Akt mit dem neuge-
schmiedeten Schwert Notung tötet, der Waffe seines Vaters Siegmund, die Wo-
tan am Ende der Walküre mit seinem Speer zerbrochen hatte. - Die ganze
folgende Textpartie von UB IV WB verbindet mit dem Helden Siegfried im An-
schluss an Wagners Konzeption der Siegfried-Figur geradezu leitmotivisch die
Idealvorstellung eines freien Menschen der Zukunft. Sie kulminiert in der ap-
pellativen Frage: „Wo sind [...] die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selb-
stigkeit aus sich Wachsenden und Blühenden, die Siegfriede unter euch?" (509,
26-31). Zu Wagners eigenen Reflexionen über seine Oper Siegfried, den dritten
Teil seiner Tetralogie Der Ring des Nibelungen, vgl. NK 436, 28-31.
der menschlichen Handlungen", nämlich Egoismus, Bosheit und Mitleid
(Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü 209-210). Vgl. NK 459, 24-30.
Allerdings problematisiert N. Wagners Prägung durch Schopenhauer spä-
ter in der Fröhlichen Wissenschaft. Dort erklärt er im Text 99 „Die Anhänger
Schopenhauer's", Wagner habe sich von der „Bezauberung" durch
Schopenhauer (KSA 3, 455, 19) dazu verführen lassen, „seine ganze Kunst [...]
als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerschen Philosophie" zu ver-
stehen (KSA 3, 455, 22-24). So sei es dazu gekommen, dass er „Schopenhauer's
Lehre aus seinen Gestalten herauslas und mit ,Wille', Genie' und ,Mitleid' sich
selber zu formuliren begann" (KSA 3, 455, 9-10). Nach der Ansicht, die N. in
der Fröhlichen Wissenschaft vertritt, geht jedoch nichts „so sehr wider den
Geist Schopenhauer's, als das eigentlich Wagnerische an den Helden Wag-
ner's", mithin „die Unschuld der höchsten Selbstsucht" sowie „der Glaube an
die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Worte, das Sieg-
friedhafte im Antlitze seiner Helden" (KSA 3, 455, 11-16).
508, 29-33 jetzt erst geschieht das früher Ersehnteste: der freie furchtlose
Mensch erscheint, er ist im Widerspruche gegen alles Herkommen entstanden;
seine Erzeuger büssen es [...], aber Siegfried lebt] Gemäß der Konzeption von
Wagners Oper Siegfried entsteht der freie Mensch, der die Problematik über-
kommener Machtverhältnisse zu überwinden vermag, erst mit Siegfried, dem
Sohn aus der ehebrecherischen Inzestbeziehung zwischen Siegmund und Sieg-
linde, die ihrerseits von Wotan außerehelich gezeugt wurden. Im zweiten Akt
der Walküre wurde Siegfrieds Vater Siegmund durch Sieglindes Ehemann Hun-
ding im Zweikampf erschlagen, weil Fricka, die Hüterin der Ehe, den Norm-
bruch des Zwillingspaars bestrafen wollte und ihre eigenen Wünsche gegen-
über ihrem Ehemann Wotan durchsetzen konnte. Im ersten Akt der Siegfried-
Oper wird der Titelheld durch den Zwerg Mime, der ihn aufgezogen hat, über
die Vorgeschichte aufgeklärt: Siegfrieds Mutter Sieglinde starb nach seiner Ge-
burt in der Schmiede Mimes. Die außergewöhnliche Furchtlosigkeit Siegfrieds
geht aus mehreren Sequenzen der Oper hervor, insbesondere aus seiner muti-
gen Haltung gegenüber dem Drachen, den er im zweiten Akt mit dem neuge-
schmiedeten Schwert Notung tötet, der Waffe seines Vaters Siegmund, die Wo-
tan am Ende der Walküre mit seinem Speer zerbrochen hatte. - Die ganze
folgende Textpartie von UB IV WB verbindet mit dem Helden Siegfried im An-
schluss an Wagners Konzeption der Siegfried-Figur geradezu leitmotivisch die
Idealvorstellung eines freien Menschen der Zukunft. Sie kulminiert in der ap-
pellativen Frage: „Wo sind [...] die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selb-
stigkeit aus sich Wachsenden und Blühenden, die Siegfriede unter euch?" (509,
26-31). Zu Wagners eigenen Reflexionen über seine Oper Siegfried, den dritten
Teil seiner Tetralogie Der Ring des Nibelungen, vgl. NK 436, 28-31.