Stellenkommentar UB IV WB 11, KSA 1, S. 509 575
rekurriert N. auf zentrale Handlungssequenzen von Wagners Oper Siegfried:
Als der Gott Wotan die Erfahrung macht, dass sein Speer durch Siegfrieds
Schwert Notung zerschlagen wird, gelangt er dadurch zu der Erkenntnis, dass
es sich bei Siegfried um den ersehnten, freien und furchtlosen Menschen han-
delt, der dazu imstande ist, die Welt vom Fluch zu erlösen. Zum Einfluss zen-
traler Konzepte aus Schopenhauers Willensmetaphysik auf die Wandlung
Wotans in Wagners Oper Siegfried vgl. NK 508, 26-28.
509, 17-18 ihr Geschlechter jetzt lebender Menschen!] Um das Pathos dieser
Textpartie zu markieren, die er alsbald mit rhetorischen Fragen zum finalen
Crescendo ausgestaltet, wählt N. eine archaisierende Diktion. Das letzte Chor-
lied der Sophokleischen Tragödie König Ödipus beginnt mit dem Ausruf: „Weh!
ihr Geschlechter der Sterblichen" (iw yeveai ßpoTWV, V. 1186).
509, 18-21 Habt ihr den Muth [...] zu sagen: es ist unser Leben, das Wagner
unter die Sterne versetzt hat?] Bereits seit der Antike gilt die Versetzung unter
die Sterne als Zeichen einer Erhebung zur Unsterblichkeit. Mit dieser rhetori-
schen Frage, der N. direkt anschließend noch weitere rhetorische Fragen fol-
gen lässt (509, 22-31), legt er angesichts der aktuellen Problemsituation seiner
Epoche eine negative Antwort nahe. Zugleich erhält diese Frage im vorliegen-
den Kontext aber auch einen Appellcharakter: durch ihre exhortative Funktion
im Hinblick auf eine „Zukunft", die über die Gegenwart hinausführen soll.
509, 22-26 Wo sind unter euch die Menschen, welche das göttliche Bild Wotan's
sich nach ihrem Leben zu deuten vermögen und welche selber immer grösser
werden, je mehr sie, wie er, zurücktreten? Wer von euch will auf Macht verzich-
ten, wissend und erfahrend, dass die Macht böse ist?] N. betont in seiner Inter-
pretation von Wagners Opern den Antagonismus zwischen bösartiger Selbst-
bezogenheit und erlösender, selbstloser Liebe. In Wagners Ring-Tetralogie
können sogar Götter wie Wotan an ihrem Machtwillen zugrunde gehen und
die Welt zerstören, da Liebe und Machtstreben nicht miteinander kompatibel
sind. Erst als Wotans Tochter Brünnhilde dem Machtwillen und der Besitzgier
entsagt und die Rheintöchter den goldenen Ring, das Symbol der Macht, zu-
rückbekommen, eröffnet sich die Perspektive auf eine mögliche gerechte Ord-
nung. - Zu der Auffassung, „dass die Macht böse ist", vgl. auch N.s nachgelas-
sene Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern (1872). In der dritten dieser
Vorreden erklärt er: „dieselbe Grausamkeit [...] liegt [...] überhaupt in der Natur
der Macht, die immer böse ist" (KSA 1, 768, 20-22). - Diese Einschätzung
vertritt übrigens vor N.s Unzeitgemässen Betrachtungen bereits Jacob Burck-
hardt in seiner Vorlesung Über das Studium der Geschichte, die postum unter
dem Titel Weltgeschichtliche Betrachtungen publiziert wurde. Hier konstatiert
Burckhardt: „Und nun zeigt es sich [...] daß die Macht an sich böse ist"
rekurriert N. auf zentrale Handlungssequenzen von Wagners Oper Siegfried:
Als der Gott Wotan die Erfahrung macht, dass sein Speer durch Siegfrieds
Schwert Notung zerschlagen wird, gelangt er dadurch zu der Erkenntnis, dass
es sich bei Siegfried um den ersehnten, freien und furchtlosen Menschen han-
delt, der dazu imstande ist, die Welt vom Fluch zu erlösen. Zum Einfluss zen-
traler Konzepte aus Schopenhauers Willensmetaphysik auf die Wandlung
Wotans in Wagners Oper Siegfried vgl. NK 508, 26-28.
509, 17-18 ihr Geschlechter jetzt lebender Menschen!] Um das Pathos dieser
Textpartie zu markieren, die er alsbald mit rhetorischen Fragen zum finalen
Crescendo ausgestaltet, wählt N. eine archaisierende Diktion. Das letzte Chor-
lied der Sophokleischen Tragödie König Ödipus beginnt mit dem Ausruf: „Weh!
ihr Geschlechter der Sterblichen" (iw yeveai ßpoTWV, V. 1186).
509, 18-21 Habt ihr den Muth [...] zu sagen: es ist unser Leben, das Wagner
unter die Sterne versetzt hat?] Bereits seit der Antike gilt die Versetzung unter
die Sterne als Zeichen einer Erhebung zur Unsterblichkeit. Mit dieser rhetori-
schen Frage, der N. direkt anschließend noch weitere rhetorische Fragen fol-
gen lässt (509, 22-31), legt er angesichts der aktuellen Problemsituation seiner
Epoche eine negative Antwort nahe. Zugleich erhält diese Frage im vorliegen-
den Kontext aber auch einen Appellcharakter: durch ihre exhortative Funktion
im Hinblick auf eine „Zukunft", die über die Gegenwart hinausführen soll.
509, 22-26 Wo sind unter euch die Menschen, welche das göttliche Bild Wotan's
sich nach ihrem Leben zu deuten vermögen und welche selber immer grösser
werden, je mehr sie, wie er, zurücktreten? Wer von euch will auf Macht verzich-
ten, wissend und erfahrend, dass die Macht böse ist?] N. betont in seiner Inter-
pretation von Wagners Opern den Antagonismus zwischen bösartiger Selbst-
bezogenheit und erlösender, selbstloser Liebe. In Wagners Ring-Tetralogie
können sogar Götter wie Wotan an ihrem Machtwillen zugrunde gehen und
die Welt zerstören, da Liebe und Machtstreben nicht miteinander kompatibel
sind. Erst als Wotans Tochter Brünnhilde dem Machtwillen und der Besitzgier
entsagt und die Rheintöchter den goldenen Ring, das Symbol der Macht, zu-
rückbekommen, eröffnet sich die Perspektive auf eine mögliche gerechte Ord-
nung. - Zu der Auffassung, „dass die Macht böse ist", vgl. auch N.s nachgelas-
sene Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern (1872). In der dritten dieser
Vorreden erklärt er: „dieselbe Grausamkeit [...] liegt [...] überhaupt in der Natur
der Macht, die immer böse ist" (KSA 1, 768, 20-22). - Diese Einschätzung
vertritt übrigens vor N.s Unzeitgemässen Betrachtungen bereits Jacob Burck-
hardt in seiner Vorlesung Über das Studium der Geschichte, die postum unter
dem Titel Weltgeschichtliche Betrachtungen publiziert wurde. Hier konstatiert
Burckhardt: „Und nun zeigt es sich [...] daß die Macht an sich böse ist"