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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0603
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576 Richard Wagner in Bayreuth

(Burckhardt 1982, 260). N. selbst hörte diese Vorlesung Burckhardts im Winter-
semester 1870/71 als „wöchentlich einstündiges Colleg über das Studium der
Geschichte" (KSB 3, Nr. 107, S. 155) und übernahm Gedanken aus ihr für UB II
HL. In der Götzen-Dämmerung würdigt er Jacob Burckhardt als singuläre kul-
turfördernde Erzieher-Persönlichkeit, der „Basel seinen Vorrang von Humani-
tät" verdanke (KSA 6, 107, 19-20). Zu Jacob Burckhardt und seiner Rezeption
durch N. vgl. auch NK 256, 2-9 sowie NK 260, 17-22 und NK 308, 11-16.
Vor dem Hintergrund einer immoralistischen ,Umwertung aller Werte' er-
scheint die Macht in N.s späteren Schriften allerdings in positivem Sinne als
Manifestation eines zum Maximum gesteigerten Lebens. Diese Tendenz zeich-
net sich bereits in der Morgenröthe ab, in der das „Machtgefühl" in den Texten
112, 128, 199, 204, 403 zum Thema gemacht wird, und setzt sich dann in der
Proklamation des ,Willens zur Macht' in Also sprach Zarathustra fort (KSA 4,
146-149). Im Kapitel „Von der Selbst-Ueberwindung" in Also sprach Zarathus-
tra II wird der „Wille zur Wahrheit" sogar der „Weisesten" als ein heimlicher
„Wille zur Macht" dekuvriert, selbst dort, wo sie „vom Guten und Bösen" sowie
„von den Werthschätzungen" reden (KSA 4, 146, 2-13). Dieser „Wille zur
Macht" als „der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille" (KSA 4, 147, 5-6) kann
sogar bis zur Selbstaufgabe aus Machttrieb reichen und offenbart dann die Do-
minanz des Machtwillens nicht nur über den „Wille[n] zur Wahrheit" (KSA 4,
146, 2), sondern auch über den Selbsterhaltungstrieb: „wahrlich, wo es Unter-
gang giebt und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben - um Macht!" (KSA 4,
148, 23-24). - Eine implizite Kritik am Konzept vom ,Willen zum Leben' in der
(auch durch Richard Wagner rezipierten) Philosophie Schopenhauers bestimmt
die Feststellung: „Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr
schoss vom ,Willen zum Dasein': diesen Willen - giebt es nicht!" (KSA 4, 148,
33-34). „Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist,
wie könnte das noch zum Dasein wollen!" (KSA 4, 149, 1-2).
Die besondere Bedeutung des Machtwillens, der gemäß Also sprach Zara-
thustra auch die WertvorStellungen maßgeblich prägt, geht aus der These her-
vor: „Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem
Schätzen selber heraus redet - der Wille zur Macht!" (KSA 4, 149, 5-7). In die-
sem Sinne wird eine von idealistischen Moralphilosophen vorausgesetzte inter-
temporale Konstanz der Wertbegriffe suspendiert und dem alles Leben
dominierenden Willen zur Macht untergeordnet. Wie in der Aussage des vorlie-
genden Lemmas, „dass die Macht böse ist", wird auch in Also sprach Zarathust-
ra das Böse mit der Macht korreliert: „Mit euren Werthen und Worten von Gut
und Böse übt ihr Gewalt, ihr Wertschätzenden: und diess ist eure verborgene
Liebe und eurer Seele Glänzen, Zittern und Überwallen. [...] / Und wer ein
Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter
 
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