Stellenkommentar UB IV WB 11, KSA 1, S. 509 579
NK 458, 10-11), sondern sie repräsentiert jeweils „Herbst und Abblühen der zu
ihr gehörenden Cultur" (KSA 2, 450, 6-7). Nach N.s Auffassung gilt dies für
Komponisten unterschiedlicher Epochen gleichermaßen: „Erst in Beethoven's
und Rossini's Musik sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhun-
dert der Schwärmerei, der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glückes. So
möchte denn ein Freund empfindsamer Gleichnisse sagen, jede wahrhaft be-
deutende Musik sei Schwanengesang" (KSA 2, 450, 19-24). - Diese Einschät-
zung bezieht N. explizit auch auf Wagner: „Vielleicht, dass auch unsere neue-
ste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrschlustig ist, in kurzer
Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer Cultur,
die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist jene Reactions- und Re-
staurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser Katholicismus des
Gefühls wie die Lust an allem heimisch-nationalen Wesen und Ur-
wesen zur Blüthe kam und über Europa einen gemischten Duft ausgoss: wel-
che beide Richtungen des Empfindens, in grösster Stärke erfasst und bis in
die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerischen Kunst zuletzt zum
Erklingen gekommen sind" (KSA 2, 450, 31 - 451, 8).
Anschließend geht N. auf Wagners Vergangenheitsorientierung ein: „Wag-
ner's Aneignung der altheimischen Sagen, sein veredelndes Schalten und Wal-
ten unter deren so fremdartigen Göttern und Helden [...], die Neubeseelung
dieser Gestalten, denen er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzück-
ter Sinnlichkeit und Entsinnlichung dazugab [...]: dieser Geist führt den aller-
letzten Kriegs- und Reactionszug an gegen den Geist der Aufklärung [...]"
(KSA 2, 451, 8-19) - als „späte[r] musikalische[r] Protest gegen sie" (KSA 2, 451,
27-28). Am Ende dieses Textes, der unter dem Titel „Eine Musik ohne Zukunft"
später auch in Nietzsche contra Wagner Eingang fand (KSA 6, 423, 14 - 424,
25), formuliert N. die Prognose, dass aus der - durch spezifische historische
Rahmenbedingungen ermöglichten - „plötzlichen Glorie" dieser Kunst keines-
wegs „die Bürgschaft dafür" abzuleiten sei, „dass sie ,Zukunft habe', oder gar,
dass sie die Zukunft habe" (KSA 2, 452, 4-6). Damit distanziert sich N. ent-
schieden von dem emphatischen Zukunftsanspruch, den Wagner selbst etwa
in seiner theoretischen Schrift Das Kunstwerk der Zukunft erhebt, wenn er seine
Vorstellungen vom ,Gesamtkunstwerk' entfaltet. In einer Umarbeitung von
Text 3 in Menschliches, Allzumenschliches I attestiert N. dem Komponisten im
Januar 1888 sogar, er gehöre zu den „Rückständigsten großen Stils, welche
unsere Zeit aufzuweisen hat" (KSA 14, 122).
Im Hinblick auf Wagners Kompositionen erhält die Korrelation zwischen
Vergangenheit und Gegenwart schon in der Geburt der Tragödie einen beson-
deren Stellenwert, wenn N. in Wagners ,Musikdrama' die moderne Wiederge-
burt' der griechischen Tragödie erblickt (vgl. KSA 1, 102, 28-30). Und in
NK 458, 10-11), sondern sie repräsentiert jeweils „Herbst und Abblühen der zu
ihr gehörenden Cultur" (KSA 2, 450, 6-7). Nach N.s Auffassung gilt dies für
Komponisten unterschiedlicher Epochen gleichermaßen: „Erst in Beethoven's
und Rossini's Musik sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhun-
dert der Schwärmerei, der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glückes. So
möchte denn ein Freund empfindsamer Gleichnisse sagen, jede wahrhaft be-
deutende Musik sei Schwanengesang" (KSA 2, 450, 19-24). - Diese Einschät-
zung bezieht N. explizit auch auf Wagner: „Vielleicht, dass auch unsere neue-
ste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrschlustig ist, in kurzer
Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer Cultur,
die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist jene Reactions- und Re-
staurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser Katholicismus des
Gefühls wie die Lust an allem heimisch-nationalen Wesen und Ur-
wesen zur Blüthe kam und über Europa einen gemischten Duft ausgoss: wel-
che beide Richtungen des Empfindens, in grösster Stärke erfasst und bis in
die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerischen Kunst zuletzt zum
Erklingen gekommen sind" (KSA 2, 450, 31 - 451, 8).
Anschließend geht N. auf Wagners Vergangenheitsorientierung ein: „Wag-
ner's Aneignung der altheimischen Sagen, sein veredelndes Schalten und Wal-
ten unter deren so fremdartigen Göttern und Helden [...], die Neubeseelung
dieser Gestalten, denen er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzück-
ter Sinnlichkeit und Entsinnlichung dazugab [...]: dieser Geist führt den aller-
letzten Kriegs- und Reactionszug an gegen den Geist der Aufklärung [...]"
(KSA 2, 451, 8-19) - als „späte[r] musikalische[r] Protest gegen sie" (KSA 2, 451,
27-28). Am Ende dieses Textes, der unter dem Titel „Eine Musik ohne Zukunft"
später auch in Nietzsche contra Wagner Eingang fand (KSA 6, 423, 14 - 424,
25), formuliert N. die Prognose, dass aus der - durch spezifische historische
Rahmenbedingungen ermöglichten - „plötzlichen Glorie" dieser Kunst keines-
wegs „die Bürgschaft dafür" abzuleiten sei, „dass sie ,Zukunft habe', oder gar,
dass sie die Zukunft habe" (KSA 2, 452, 4-6). Damit distanziert sich N. ent-
schieden von dem emphatischen Zukunftsanspruch, den Wagner selbst etwa
in seiner theoretischen Schrift Das Kunstwerk der Zukunft erhebt, wenn er seine
Vorstellungen vom ,Gesamtkunstwerk' entfaltet. In einer Umarbeitung von
Text 3 in Menschliches, Allzumenschliches I attestiert N. dem Komponisten im
Januar 1888 sogar, er gehöre zu den „Rückständigsten großen Stils, welche
unsere Zeit aufzuweisen hat" (KSA 14, 122).
Im Hinblick auf Wagners Kompositionen erhält die Korrelation zwischen
Vergangenheit und Gegenwart schon in der Geburt der Tragödie einen beson-
deren Stellenwert, wenn N. in Wagners ,Musikdrama' die moderne Wiederge-
burt' der griechischen Tragödie erblickt (vgl. KSA 1, 102, 28-30). Und in