Überblickskommentar 41
weil die Rezepte, welche zur stoischen Gemütsruhe (tranquillitas animi) ver-
helfen sollen, nicht auf einer vorgängigen Affekterregung basieren, sondern im
Gegenteil auf einer grundsätzlichen Ausschaltung der Affekte, darunter Furcht,
Mitleid, Zorn und Begierden, durch asketische Selbstkontrolle.
Abschließend greift N. in Μ 134 einen Gedanken Kants auf, der sich zwar
der stoischen Lehre grundsätzlich anschließt, aber mit einer wesentlichen Wei-
terung. Kant argumentiert in der Metaphysik der Sitten § 39, wer sich zu sehr
von der mitleidigen Empfindung angreifen lasse, könne seine Fähigkeit zu tat-
kräftiger Hilfe, wie sie die moralische Pflicht fordere, einbüßen. Demnach ist
nicht das passive Mitleiden, sondern nur das zur Aktivität treibende (als Mittel
zu moralischem Handeln) positiv zu bewerten. In N.s Version kommt freilich
nur noch die lähmende Wirkung des Mitleidens zur Sprache: „Wer aber gar als
Arzt in irgend einem Sinne der Menschheit dienen will, wird gegen jene
Empfindung [des Mitleids] sehr vorsichtig werden müssen, - sie lähmt ihn in
allen entscheidenden Augenblicken und unterbindet sein Wissen und seine
hülfreiche feine Hand" (128, 22-27). N.s Ablehnung des Mitleids ist präjudiziert
von einer lediglich ,philosophisch' überformten grundsätzlichen Ablehnung
des Mitleids bereits im dritten seiner Vorträge Über die Zukunft unserer Bil-
dungsanstalten: Der griechische Staat. Er hielt ihn am 27. Februar 1872. Darin
bezeichnete er das Mitleid als Symptom dekadenter Verweichlichung, die auch
zur Vorstellung von ,Menschenrechten' geführt habe. Dagegen beruft er sich
auf die „Natur der Macht" (KSA 1, S. 768, 22) und predigt „Gewalt" und „Krieg",
vor allem aber fordert er die Ausbeutung der zu Sklaven herabgedrückten
Mehrheit zugunsten der „eximirten Kulturmenschen" (S. 769, 22), denn sonst
sei es gewiss, „daß wir an dem Mangel des Sklaventhums zu Grunde gehen
werden" (S. 769, 22). Seine These lautet: „Demgemäß müssen wir uns dazu
verstehen, als grausam klingende Wahrheit hinzustellen, daß zum Wesen einer
Kultur das Sklaventhum gehöre" (S. 767, 25-27).
Eine ganze Reihe von Texten fällt wieder in den alten Moralisten-Verdacht
zurück, alles altruistisch Scheinende folge in Wahrheit einem bewusst oder
unbewusst egoistischen Antrieb. Anschließend nimmt N. die auf den „Nächs-
ten" ausgerichtete Mitleids-Moral und damit implizit das christliche Gebot der
Nächstenliebe ins Visier. In M 146 versucht er gegenüber der tätigen Nächsten-
liebe, die er als eine auf Nahwirkungen angelegte Verhaltenweise versteht, eine
,Fernstenliebe' zu propagieren, wie sie von den zeitgenössischen Züchtungs-
phantasien, insbesondere von den eugenischen Programmen und den ihnen
assoziierten Euthanasie-Vorschlägen abgeleitet werden konnte. Später, beson-
ders im Zarathustra, rückt solche „Fernstenliebe" in den Vordergrund, aber ein
Vorspiel hat sie schon in mehreren auf „Zukunft" gerichteten Frühschriften: in
der Geburt der Tragödie sowie in der zweiten und vierten der Unzeitgemäßen
weil die Rezepte, welche zur stoischen Gemütsruhe (tranquillitas animi) ver-
helfen sollen, nicht auf einer vorgängigen Affekterregung basieren, sondern im
Gegenteil auf einer grundsätzlichen Ausschaltung der Affekte, darunter Furcht,
Mitleid, Zorn und Begierden, durch asketische Selbstkontrolle.
Abschließend greift N. in Μ 134 einen Gedanken Kants auf, der sich zwar
der stoischen Lehre grundsätzlich anschließt, aber mit einer wesentlichen Wei-
terung. Kant argumentiert in der Metaphysik der Sitten § 39, wer sich zu sehr
von der mitleidigen Empfindung angreifen lasse, könne seine Fähigkeit zu tat-
kräftiger Hilfe, wie sie die moralische Pflicht fordere, einbüßen. Demnach ist
nicht das passive Mitleiden, sondern nur das zur Aktivität treibende (als Mittel
zu moralischem Handeln) positiv zu bewerten. In N.s Version kommt freilich
nur noch die lähmende Wirkung des Mitleidens zur Sprache: „Wer aber gar als
Arzt in irgend einem Sinne der Menschheit dienen will, wird gegen jene
Empfindung [des Mitleids] sehr vorsichtig werden müssen, - sie lähmt ihn in
allen entscheidenden Augenblicken und unterbindet sein Wissen und seine
hülfreiche feine Hand" (128, 22-27). N.s Ablehnung des Mitleids ist präjudiziert
von einer lediglich ,philosophisch' überformten grundsätzlichen Ablehnung
des Mitleids bereits im dritten seiner Vorträge Über die Zukunft unserer Bil-
dungsanstalten: Der griechische Staat. Er hielt ihn am 27. Februar 1872. Darin
bezeichnete er das Mitleid als Symptom dekadenter Verweichlichung, die auch
zur Vorstellung von ,Menschenrechten' geführt habe. Dagegen beruft er sich
auf die „Natur der Macht" (KSA 1, S. 768, 22) und predigt „Gewalt" und „Krieg",
vor allem aber fordert er die Ausbeutung der zu Sklaven herabgedrückten
Mehrheit zugunsten der „eximirten Kulturmenschen" (S. 769, 22), denn sonst
sei es gewiss, „daß wir an dem Mangel des Sklaventhums zu Grunde gehen
werden" (S. 769, 22). Seine These lautet: „Demgemäß müssen wir uns dazu
verstehen, als grausam klingende Wahrheit hinzustellen, daß zum Wesen einer
Kultur das Sklaventhum gehöre" (S. 767, 25-27).
Eine ganze Reihe von Texten fällt wieder in den alten Moralisten-Verdacht
zurück, alles altruistisch Scheinende folge in Wahrheit einem bewusst oder
unbewusst egoistischen Antrieb. Anschließend nimmt N. die auf den „Nächs-
ten" ausgerichtete Mitleids-Moral und damit implizit das christliche Gebot der
Nächstenliebe ins Visier. In M 146 versucht er gegenüber der tätigen Nächsten-
liebe, die er als eine auf Nahwirkungen angelegte Verhaltenweise versteht, eine
,Fernstenliebe' zu propagieren, wie sie von den zeitgenössischen Züchtungs-
phantasien, insbesondere von den eugenischen Programmen und den ihnen
assoziierten Euthanasie-Vorschlägen abgeleitet werden konnte. Später, beson-
ders im Zarathustra, rückt solche „Fernstenliebe" in den Vordergrund, aber ein
Vorspiel hat sie schon in mehreren auf „Zukunft" gerichteten Frühschriften: in
der Geburt der Tragödie sowie in der zweiten und vierten der Unzeitgemäßen