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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0057
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42 Morgenröthe

Betrachtungen. Zugunsten dieser in eine inhaltsleere Zukunft gerichteten
Fernstenliebe wertet N. zunächst unter dem Motto „Auch über den
Nächsten hinweg" (137, 11) die auf den „Nächsten" bezogene Moral ab,
als kurzsichtige, ja als „eine enge und kleinbürgerliche Moral" (137, 15). Er
schlägt vor, „über diese nächsten Folgen für den Anderen hinwegzuse-
hen", und zwar um „entferntere Zwecke unter Umständen auch durch
das Leid der Anderen zu fördern" (137, 17-19). Die Rede von den „Zwe-
cken" steuert auf die Ansicht zu, der Zweck heilige die Mittel, und dies, obwohl
entsprechende „Zwecke" gar nicht definiert werden.
Dass N. sich wahrscheinlich an Machiavellis Werk II principe orientiert,
verrät der alsbald folgende Hinweis auf den Staat und den Fürsten. „Gesetzt,
wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns: was würde uns verbieten, den
Nächsten mit aufzuopfern? - so wie es bisher der Staat und der Fürst thaten"
(137, 26-29). Da N. dem „Staat" in seinen Schriften meist ablehnend gegenüber-
steht und die Zeit der „Fürsten" vorbei war, zeigt der anschließende Anspruch
auf ein Ausnahmemenschentum, dem alles erlaubt sei, dass N. sich quasi als
Fürsten-Nachfolger und souveräner Freigeist ein Recht auf Bestimmung der
Zukunft zubilligt: „Aber auch wir [!] haben allgemeine und vielleicht allgemei-
nere Interessen: warum sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige
Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden dür-
fen? sodass ihr Gram, ihre Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und
Angstschritte für nöthig befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Bo-
den brechen und fruchtbar für Alle machen solle?" (138, 1-8) Der Metapher
der „Pflugschar" kommt besondere Bedeutung zu, weil N. für seine Schrift ja
ursprünglich den Titel „Die Pflugschar" als Leitvorstellung vorsah. Sie ist frei-
lich ambivalent: Einerseits assoziiert sie, vor allem im Kontext mit der in die-
sem Text mehrmals exponierten Vorstellung des „Opfers", dass der bisherige
Zustand gründlich zu verändern, ja umzustürzen sei, auch um den Preis von
Menschenopfern; andererseits lanciert sie eine Vorstellung künftiger Frucht-
barkeit, die jedoch ebenso leer und allgemein bleibt wie die anschließende
Rede von der „Aufgabe", für welche die zu Opfern bestimmten Menschen zu
„benützen" sind (138, 10).
Am Ende dieses Texts lässt N. erkennen, dass er vor allem an das Gefühl
der Macht denkt, das ihm auch sonst in der Morgenröthe wichtig ist. Es prälu-
diert dem Gedanken vom „Willen zur Macht". Von diesem ist bereits in nachge-
lassenen Notaten aus der Entstehungszeit der Morgenröthe die Rede, so z. B. in
der Bemerkung: „Vom Willen zur Macht wird kaum mehr gewagt zu sprechen:
anders zu Athen" (NL 1880, 7[206], KSA 9, 360). „Wir dagegen", schreibt er,
„würden doch durch das Opfer - in welchem wir und die Nächsten einbe-
griffen sind - das allgemeine Gefühl der menschlichen Macht stärken und
höher heben" (138, 16-19). Vgl. hierzu genauer NK M 146. Dass N. das „Gefühl
 
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