40 Morgenröthe
lich interpretiert N. seine Ablehnung des Mitleids in einem Brief an Franz Over-
beck vom 14 .9. 1884: „Von meiner Kindheit an hat sich der Satz ,im Mitleiden
liegen meine größten Gefahren' immer wieder bestätigt", und er fährt fort:
„daß ich durch die schlimmen Erfahrungen, die ich mit dem Mitleiden ge-
macht habe, zu einer theoretisch sehr interessanten Veränderung in der
Werthschätzung des Mitleidens angeregt worden bin" (KSB 6/KGB III/1,
Nr. 533). Allerdings schließt er sich mit dieser veränderten Beurteilung des Mit-
leids an eine schon von der Stoa und Kant vorgegebene Bewertung an. Vgl. NK
Μ 132 und ΝΚ Μ 134.
Weiterhin verfolgt N. das Ziel, die ,Moral' schlechthin als vorurteilshaft
und daher als fragwürdig zu charakterisieren. Im gleichen Text, in dem N. das
Gemisch von Motiven des Mitleids so erörtert, dass dieses die Qualität einer
prinzipiell moralischen Regung verliert, will er bei den „Menschen ohne Mit-
leid" (127, 8) gegenüber den Mitleidigen einen gewissen Vorteil erkennen, in-
dem er ihnen eine geringere Reizbarkeit, weniger Eitelkeit und eine bessere
Fähigkeit zuschreibt, schmerzlichen Erfahrungen standzuhalten. Er schließt
mit einem Plädoyer gegen die moralischen Wertungen „Gut und Böse" über-
haupt: Sowohl die Mitleidigen wie die nicht Mitleidigen stellt er als konträre
Typen des fundamental egoistischen Menschen dar. Mit dieser Wertung ,Jen-
seits von Gut und Böse' folgt er den Entlarvungsstrategien der Moralistik, ins-
besondere La Rochefoucaulds.
Allerdings gibt N. dann doch zu erkennen, dass er das Mitleiden unter
einem bestimmten Aspekt als gefährlicher als das Nicht-Mitleiden wertet: „so-
fern es wirklich Leiden schafft" (127, 31 f.). In FW 271 wird er formulieren: „W o
liegen deine grössten Gefahren? - Im Mitleiden". Und in M 134 betont
er ganz im Sinne der stoischen Tradition und Kants, der sich dieser Tradition
mit einigen Differenzierungen angeschlossen hatte, das „Schädigende" und
Schwächende des mitleidigen Affekts. Dementsprechend gelte es „bei den Grie-
chen, als ein krankhafter periodischer Affect, dem man durch zeitweilige will-
kürliche Entladungen seine Gefährlichkeit nehmen könne" (128, 16-18). Hier
meint N. die Affekt-Entladung, die nach einer von ihm in der Geburt der Tragö-
die aufgegriffenen Theorie durch die Wirkung der griechischen Tragödie zu-
stande kommt. Indem das tragische Geschehen, wie Aristoteles in seiner Poetik
sagt, Furcht und Mitleid (έλεος) erregt, bewirkt es eine Reinigung, eine Kathar-
sis „von derartigen Affekten" (τών τοιούτων παθημάτων). Dieser Theorie zufol-
ge ist die Tragödie unter dem wirkungsästhetischen Gesichtspunkt eine psy-
chohygienische Maßnahme, die gerade mittels äußerster Steigerung affektiver
Betroffenheit zu einer „Entladung" dieser Affekte und so zu einer reinigenden
Befreiung von ihnen führt. N. assoziiert diese Tragödientheorie in aberranter
Weise mit der stoischen Lehre von der Affektbewältigung - aberrant deshalb,
lich interpretiert N. seine Ablehnung des Mitleids in einem Brief an Franz Over-
beck vom 14 .9. 1884: „Von meiner Kindheit an hat sich der Satz ,im Mitleiden
liegen meine größten Gefahren' immer wieder bestätigt", und er fährt fort:
„daß ich durch die schlimmen Erfahrungen, die ich mit dem Mitleiden ge-
macht habe, zu einer theoretisch sehr interessanten Veränderung in der
Werthschätzung des Mitleidens angeregt worden bin" (KSB 6/KGB III/1,
Nr. 533). Allerdings schließt er sich mit dieser veränderten Beurteilung des Mit-
leids an eine schon von der Stoa und Kant vorgegebene Bewertung an. Vgl. NK
Μ 132 und ΝΚ Μ 134.
Weiterhin verfolgt N. das Ziel, die ,Moral' schlechthin als vorurteilshaft
und daher als fragwürdig zu charakterisieren. Im gleichen Text, in dem N. das
Gemisch von Motiven des Mitleids so erörtert, dass dieses die Qualität einer
prinzipiell moralischen Regung verliert, will er bei den „Menschen ohne Mit-
leid" (127, 8) gegenüber den Mitleidigen einen gewissen Vorteil erkennen, in-
dem er ihnen eine geringere Reizbarkeit, weniger Eitelkeit und eine bessere
Fähigkeit zuschreibt, schmerzlichen Erfahrungen standzuhalten. Er schließt
mit einem Plädoyer gegen die moralischen Wertungen „Gut und Böse" über-
haupt: Sowohl die Mitleidigen wie die nicht Mitleidigen stellt er als konträre
Typen des fundamental egoistischen Menschen dar. Mit dieser Wertung ,Jen-
seits von Gut und Böse' folgt er den Entlarvungsstrategien der Moralistik, ins-
besondere La Rochefoucaulds.
Allerdings gibt N. dann doch zu erkennen, dass er das Mitleiden unter
einem bestimmten Aspekt als gefährlicher als das Nicht-Mitleiden wertet: „so-
fern es wirklich Leiden schafft" (127, 31 f.). In FW 271 wird er formulieren: „W o
liegen deine grössten Gefahren? - Im Mitleiden". Und in M 134 betont
er ganz im Sinne der stoischen Tradition und Kants, der sich dieser Tradition
mit einigen Differenzierungen angeschlossen hatte, das „Schädigende" und
Schwächende des mitleidigen Affekts. Dementsprechend gelte es „bei den Grie-
chen, als ein krankhafter periodischer Affect, dem man durch zeitweilige will-
kürliche Entladungen seine Gefährlichkeit nehmen könne" (128, 16-18). Hier
meint N. die Affekt-Entladung, die nach einer von ihm in der Geburt der Tragö-
die aufgegriffenen Theorie durch die Wirkung der griechischen Tragödie zu-
stande kommt. Indem das tragische Geschehen, wie Aristoteles in seiner Poetik
sagt, Furcht und Mitleid (έλεος) erregt, bewirkt es eine Reinigung, eine Kathar-
sis „von derartigen Affekten" (τών τοιούτων παθημάτων). Dieser Theorie zufol-
ge ist die Tragödie unter dem wirkungsästhetischen Gesichtspunkt eine psy-
chohygienische Maßnahme, die gerade mittels äußerster Steigerung affektiver
Betroffenheit zu einer „Entladung" dieser Affekte und so zu einer reinigenden
Befreiung von ihnen führt. N. assoziiert diese Tragödientheorie in aberranter
Weise mit der stoischen Lehre von der Affektbewältigung - aberrant deshalb,