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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0054
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Überblickskommentar 39

herzigkeit aus. N. dagegen hält sich in diesem Fall ausdrücklich an die Position
der von ihm sonst vielfach kritisierten Stoiker. Er spitzt deren Ablehnung des
Mitleids noch zu, indem er, getreu seiner Fixierung auf das ,Individuum', eine
„Schwächung und Aufhebung des Individuums" durch die Empfindung
des Mitleids befürchtet (M 132, 124, 25).
Allerdings wirken zwei andere Motive mit, die eng zusammenhängen. Das
erste ist die Ablehnung aller revolutionären Bestrebungen samt den „socialisti-
schen Systemen", weil sie Veränderungen zugunsten der gesellschaftlich Be-
nachteiligten herbeizuführen versuchen sowie bestehende Privilegien - an de-
ren Bewahrung liegt N. besonders - aufheben wollen. Das zweite ist die grund-
sätzliche Aversion gegen das christliche Gebot der Nächstenliebe sowie gegen
die hohe Wertung der Barmherzigkeit im Christentum. N. sieht in den sozialisti-
schen und demokratischen Bewegungen, die er bereits in der Geburt der Tragö-
die verabscheute, letztlich nur ein säkularisiertes Christentum. Sogar die fran-
zösischen Freidenker, an denen er sich sonst doch orientiert, geraten ihm unter
diesem Aspekt in Verdacht. Er glaubt bei ihnen ebenfalls nur ein Residuum
christlicher Stimmungen zu erkennen. „Je mehr man sich von den Dogmen
loslöste", schreibt er in M 132, „um so mehr suchte man gleichsam die Recht-
fertigung dieser Loslösung in einem Cultus der Menschenliebe: hierin hinter
dem christlichen Ideale nicht zurückzubleiben, sondern es womöglich zu
überbieten, war ein geheimer Sporn bei allen französischen Freidenkern,
von Voltaire bis auf Auguste Comte: und Letzterer hat mit seiner berühmten
Moralformel vivre pour autrui in der That das Christenthum überchristlicht"
(123, 21-28).
N. erörtert verschiedene Möglichkeiten, wie Mitleid bewusst oder unbe-
wusst verkappter Egoismus sein könnte. Eine dieser Möglichkeiten besteht in
dem Gefühl der Macht, das derjenige auskostet, der angesichts fremder Hilfsbe-
dürftigkeit als Helfender einzugreifen vermag, eine andere in dem Bedürfnis,
sich von einem Leidensdruck zu befreien, den man als Mitleidender fühlt; so-
gar die Empfindung der Lust kann demjenigen zuteil werden, der auf Dank
und Anerkennung oder jedenfalls auf ein gutes Gelingen zu hoffen vermag,
wenn er aus Mitleid einem andern Hilfe bringt; schließlich vermag eine vom
Mitleid ausgehende Handlung auch die Genugtuung darüber herbeizuführen,
dass einer empörenden Ungerechtigkeit ein Ende gesetzt wird. N. sieht in M
133 jeden dieser auf das eigene Ego zurückweisenden, wenn auch nicht im
engeren Sinn ,egoistischen' Antriebe keineswegs isoliert, sondern in einem
ganzen Geflecht derartiger Motive wirksam werden. So erklärt er das Mitleid
psychologisch als komplexes Phänomen - im Gegensatz zur schlicht morali-
schen Interpretation des Mitleids durch Schopenhauer, der das Mitleid wie
schon Rousseau zur Quelle aller moralischen Handlungen macht. Ganz persön-
 
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