Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0132
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 36-37 117

Studium der platonischen Dialoge (1871/72) hatte N., ausgehend von der Poli-
teia, die vier Haupttugenden ausführlich erörtert (KGW II 4, 175-180). Alle vier
Kardinaltugenden nennt Platon bereits in seinem Dialog Phaidon (69 al0-b3).
Kant und Schopenhauer hatten die auf diese Kardinaltugenden gegründete
Moral kritisch in Frage gestellt. Da Platon sowohl im Phaidon wie in der Politeia
Sokrates als Wortführer im dialogischen Arrangement auftreten lässt, spricht
N. von „sokratischen Tugenden" (37, 21 f.). Er setzt sich über die Schwie-
rigkeit hinweg, die Vorformen (er spricht von den „Anfängen") der vier Kardi-
naltugenden im tierischen Verhalten evident zu machen, da er das „ganze [!]
moralische Phänomen als thierhaft" verstehen möchte (37, 27 f.).

27
37, 30 f. Der Werth im Glauben an übermenschliche Leiden-
schaften.] Die missverständliche Formulierung dieses Titels zielt nicht auf
übermenschlich starke Leidenschaften, vielmehr auf den Trugschluss, die Hef-
tigkeit der Leidenschaft garantiere deren notwendige und obendrein moralisch
zu sanktionierende Dauer. Als Beispiel nennt N. den problematischen Schluss
von der „feurigen Hingebung des Augenblicks" in der Liebe auf „die ewige
Treue" in der Ehe. Dieser Schluss erscheint als eine über die menschliche Er-
fahrung hinausgehende und insofern ,übermenschliche' Moral. Die „pia fraus"
(der fromme Betrug), von der N. mit einer Prägung Ovids (Metamorphosen IX,
711) spricht, gilt der aus der Leidenschaft selbst resultierenden Disposition zur
Illusion. In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts sowie in der älteren Moralistik
ist die Wirklichkeitsverfehlung durch religiöse und metaphysische Illusionen,
die aus emotional gesteigerten Zuständen - „Leidenschaften" - entstehen, ein
verbreitetes Thema. Wie die Lesespuren in N.s Exemplar der deutschen Über-
setzung von Helvetius' Hauptwerk De l'esprit zeigen, studierte N. dieses Werk,
in dem neben anderen für die Morgenröthe fundamentalen Themen - der Rela-
tivierung der Begriffe Gut und Böse und der Erhebung des Egoismus zur Norm
allen Handelns - auch die Illusionslehre traktiert wird (Helvetius 1760). Bedeu-
tende Schriftsteller des 19. Jahrhunderts griffen die aufklärerische Illusionsleh-
re auf, um sie poetisch auszugestalten, so Kleist (in seinem Lustspiel Amphi-
tryon und in seiner Erzählung Das Erdbeben in Chili) und der von N. zur Zeit der
Morgenröthe intensiv rezipierte Stendhal sowohl in seinen großen Romanen Le
Rouge et le Noir und La chartreuse de Parme wie auch, geradezu programma-
tisch, in seiner Schrift De l'amour, der N. in einem nachgelassenen Notat aus
dieser Zeit den zentralen Begriff der „cristallisation" entnimmt (NL 1880/81,
8[40], KSA 9, 391).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften