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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0133
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118 Morgenröthe

Im Frühwerk, insbesondere in der Geburt der Tragödie, hatte N. die Illusio-
nen noch als lebensnotwendig bejaht; in der aufklärerisch inspirierten mittle-
ren Phase destruiert er die Illusionen, indem er die Realität und den kritischen
Verstand als Maßstab nimmt; im Spätwerk bejaht er die Illusionen wieder, weil
sie zur Steigerung der Lebensintensität beitragen und weil sich in ihnen der
„Wille zur Macht" entlädt. Zugleich radikalisiert er im Spätwerk den Illusions-
begriff noch, indem er alles, was bisher als „Wahrheit" geglaubt wurde, zu
lediglich undurchschauten Illusionen erklärt. Er konstatiert, es sei sinnlos, Il-
lusionen zu destruieren (wie er es selbst noch in seiner mittleren Phase tat),
da „die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergibt" (NL 1885,
34[194], KSA 11, 486 und 35[47], 533).
Zum zeitgenössischen Kontext gehört die Illusionslehre von Jean Marie
Guyau, der ähnlich wie N. in seiner frühen und seiner späten Phase die Illusion
lebensphilosophisch legitimiert: Sie erleichtere das Leben und fördere die Be-
reitschaft zum Handeln. Wenige Jahre nach Veröffentlichung der Morgenröthe
kaufte N. zwei Werke von Guyau, die er intensiv studierte und annotierte: Es-
quisse d'une morale sans obligation ni sanction (1885) und L'irreligion de l'ave-
nir. Etüde sociologique (1887). Vgl. Bergmann 1920, 209-240.

28
38, 22 Die Stimmung als Argument.] Wie den anderen Aussagen dieses
Textes durchgängig Evidenz und Stringenz fehlen, trifft auch die Aussage über
die Orakel in dieser Verallgemeinerung nicht zu.

29
39, llf. Die Schauspieler der Tugend und der Sünde.] Auf das
Schauspielerhafte am Menschen war N. im Hinblick auf Wagner aufmerksam
geworden. In mehreren Schriften betont er Wagners Schauspieler-Natur: seit
UB IV: Richard Wagner in Bayreuth, als er bereits Abstand von dem einst hoch-
verehrten Wagner zu nehmen begann, bis hin zur polemischen Abrechnung in
der Spätschrift Der Fall Wagner, zu deren Hauptthemen das Schauspielerhafte
in Wagners menschlichem und künstlerischem Habitus gehört.
Die beiden Leitbegriffe „Tugend" und „Sünde" wählt N. zunächst, um der
christlichen „Sünde" die griechische „Tugend" entgegenzustellen. „Tugend" ist
hier eine aus Mangel an einem Äquivalent in der deutschen Sprache etablierte,
aber eher irreführende Übersetzung des griechischen Begriffs άρετή. Im über-
greifenden Horizont seiner Moralkritik, die alle moralischen Vorstellungen und
 
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