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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0131
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116 Morgenröthe

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36, 2 Sitte und Schönheit.] Nachdem N. bisher die „Sitte" als Inbegriff
konventionalisierter Moral in Frage gestellt hat, bemerkt er hier ironisch etwas
„zu Gunsten der Sitte", wie es gleich am Anfang heißt - in Wahrheit korreliert
er Sitte und Schönheit, um durch die Behauptung, „Schönheit" sei ein Phäno-
men dekadenter Verkümmerung, auch die „Sitte" und damit die Moral als de-
kadent zu deklarieren. Der Hintergrund ist die auch in anderen Texten der
Morgenröthe vorgetragene Opposition gegen die traditionelle idealistische An-
nahme eine Koinzidenz des Guten („Sitte") und des Schönen. Vgl. hierzu und
insbesondere zum Gegen-Begriff des Bösen und des Hässlichen M 468 sowie
den Kommentar. Der Rest des Textes - die Analogisierung von Affen-Schönheit
und „Schönheit der Weiber" verrät N.s Misogynie.

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36, 14 Die Thiere und die Moral.] N. untergräbt nicht nur die „morali-
schen Vorurtheile", wie der Untertitel der Morgenröthe ankündigt, sondern die
Moral überhaupt, indem er sie als vorurteilshaft charakterisiert, nämlich inso-
fern sie eine geistig-sittliche Eigensphäre beansprucht. Indem er alle „Moral"
als lediglich verfeinerte Form von Verhaltensmustern interpretiert, die sich
schon bei Tieren (und ,rohen Völkern') finden, schließt er sich der zu seiner
Zeit beliebten naturalistischen Reduktion zivilisatorischer Entwicklungen an.
Insbesondere die grundsätzliche Differenz zwischen Mensch und Tier wird auf-
gehoben. In UB IV: Richard Wagner in Bayreuth hatte sich N. noch dagegen
ausgesprochen (KSA 1, 463, 2-5). N. beschäftigte sich mit Darwin, der in seiner
Abstammungslehre die prinzipielle biologische Gleichheit von Mensch und
Tier darstellte; N. vermeidet es aber, von „Evolution" zu sprechen und wählt
statt dessen die stärker kulturell besetzte Vorstellung der Verfeinerung (vgl. 36,
15; 37, 27). In seiner persönlichen Bibliothek hatte N. das von ihm, wie die
Lesespuren zeigen, intensiv herangezogene Werk des Darwinisten Georg Hein-
rich Schneider Der thierische Wille. Systematische Darstellung und Erklärung der
thierischen Triebe und deren Entstehung Entwickelung und Verbreitung im Thier-
reiche als Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre (NPB).
Dass N.s eigentliche Stoßrichtung gegen die „Moral" geht, erhellt aus der
naturalistischen Reduktion sogar der vier Kardinaltugenden (37, 20-24), die
seit Platons Tugendkatalog in der Politeia kanonisiert sind. Platon statuiert
eine Vierzahl von Kardinaltugenden: Klugheit (phronesis, prudentia), Beson-
nenheit (sophrosyne, temperantia), Tapferkeit (andreia, fortitudo) und Gerech-
tigkeit (dikaiosyne, iustitia). Schon in seiner Basler Vorlesung Einleitung in das
 
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