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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0154
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 51-52 139

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51, 21 Ursprung und Bedeutung.] Im ersten Teil dieses Textes setzt sich
N. mit der Ursprungsideologie auseinander, die sich schon in der zweiten Hälf-
te des 18. Jahrhunderts ausformte, als man mit Vorliebe Urzustände und - wie
etwa Herder - „Urkunden" der Menschheit aufsuchte. N. huldigte noch in der
Geburt der Tragödie dieser Ursprungsideologie, wie schon die Titelmetapher
der „Geburt" und die zahlreichen Wortzusammensetzungen mit der Vorsilbe
„Ur-" erkennen lassen. Bereits am Ende von Μ 42 kehrt er sich entschieden von
der Verklärung des Ursprünglichen ab, indem er sogar von einem schändlichen
Ursprung („pudenda origo"; 50, 18) spricht. Entgegen seinem sonstigen Deka-
denz-Schema wertet er im vorliegenden Text die Gegenwart einer entwickelten
Zivilisation höher als das Archaische der „älteren Menschheit".
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52, 14 Ein Tragödien-Ausgang der Erkenntniss.] Im 5. Buch der Mor-
genröthe ist die „Leidenschaft der Erkenntnis" ein Hauptthema. In M 429 be-
zeichnet N. sie als die „neue Leidenschaft" und schreibt: „Die Erkenntniss hat
sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt" (264,
26-28). Schon in M 45 weitet sich der Gedanke, dass die Leidenschaft der Er-
kenntnis Opfer fordert, von der individuellen Erfahrung des von dieser Leiden-
schaft Besessenen auf den „Gedanken der sich opfernden Menschheit"
aus (52, 20 f.) - als ob der Menschheit im Ganzen daran gelegen sein könnte,
sich für die Erkenntnis zu opfern. Die Absurdität eines solchen „Gedankens"
überspielt N. mit der Hoffnung, erst „einige Jahrtausende" später - er denkt
gerne in Jahrtausenden - werde sich „die Begeisterung der Erkenntniss" (53,
1-3) bis zu diesem Grad gesteigert haben. Auch sonst (vgl. etwa 320, 27 f.) be-
schwört N., wenn Plausibilität sich nicht einstellen will, gerne eine ferne „Zu-
kunft", welche rückwirkend die eigenen Projektionen als prophetisch erschei-
nen lassen soll. Nicht zuletzt soll die suggestive Übertragung der eigenen, zu-
nächst auf tragische Selbstheroisierung angelegten Opfer-Phantasie auf ein
kollektives „Wir" das Plausibilitätsdefizit kompensieren: „wir [!] wollen Alle [!]
lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntniss!" (Μ
429, 265, 5-7). Schon in M 45 findet diese Übertragung statt, wenn es heißt,
dass der „Erkenntnisstrieb die Menschheit so weit treiben könnte, sich selber
[als Opfer] darzubringen, um mit dem Leuchten einer vorwegnehmenden Weis-
heit im Auge [mit der antizipatorischen Gewissheit der Propheten] zu sterben"
(52, 29-31).
Einen „Tragödien-Ausgang der Erkenntniss" nennt N. den so
als Opfer imaginierten Untergang der Menschheit um der Erkenntnis willen,
 
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