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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0177
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162 Morgenröthe

Ähnlich wie später Freud im siebten Kapitel seiner Schrift Das Unbehagen
in der Kultur entwickelt N. in seiner Abhandlung Zur Genealogie der Moral (GM
II 16) folgende Hypothese zum Thema der Strafe: „Alle Instinkte, welche sich
nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen - und dies ist das,
was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das
an den Menschen heran, was man später seine ,Seele' nennt. Die ganze innere
Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häuten eingespannt, ist in dem
Maasse auseinander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als
die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist. Jene furcht-
baren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten
Instinkte der Freiheit schützte - die Strafen gehören vor Allem zu diesen Boll-
werken - brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien schwei-
fenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst
wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am
Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung - Alles das gegen die Inhaber solcher
Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des ,schlechten Gewissens'."
(KSA 5, 322, 22-323, 4)
77, 18 f. Die Griechen haben ein eigenes Wort für die Empörung über das Un-
glück des Andern] Dieses Wort lautet νεμεσσητικόν. Der Verbalstamm hat die
Bedeutung „unwillig sein". In einem nachgelassenen Notat vom Jahr 1876
heißt es: „νεμεσσητικόν ist der Götterneid" (17[58], KSA 8, 307).

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77, 24 Ein Vorschlag.] N. knüpft (wie schon in M 63) an Pascals Wort „Le
moi est toujours häissable" an und zwar an folgende Stelle: „Le moi est häis-
sable. Vous, Miton, le couvrez; vous ne l'ötez pas pour cela: vous etes donc
toujours haissable" (in der Ausgabe von Prosper Faugere I, 197; in der deut-
schen Übersetzung von Schwartz I, 190 f.) Vgl. die bibliographische Angabe
im Kommentar zu M 91. N. problematisiert auch den bei Paulus und in der
augustinischen Tradition zentralen Begriff der „Gnade", der seit Luther im Pro-
testantismus fest verwurzelt war: als unverdienter, weil nicht durch „Werke"
begründbarer Gnadenerweis Gottes an den schon prinzipiell der Sünde verfal-
lenen Menschen (vgl. Μ 72 und ΝΚ hierzu). Noch im Fall Wagner (1888) greift
N. auf Pascals Wort zurück: „Der Christ will von sich loskommen. Le moi
est toujours haissable. - Die vornehme Moral, die Herren-Moral, hat umge-
kehrt ihre Wurzel in einem triumphirenden Ja-sagen zu sich, - sie ist Selbstbe-
jahung, Selbstverherrlichung des Lebens" (KSA 6, 52, 4-8).
 
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