Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 77-78 163
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78, 5 Der mitleidige Christ.] Zur Diagnose des christlichen Mitleids und
seiner Bedeutung für die ,Moral' vgl. NK, S. 38-42, M 132-146 sowie die Kom-
mentare.
81
78, 10 Humanität des Heiligen.] Zu N.s Auseinandersetzung mit der
christlichen Vorstellung der Sünde und der Sündhaftigkeit des Menschen vgl.
insbesondere M 89 sowie den Kommentar.
82
78, 21 Der geistliche Überfall.] Auch hier kontrastiert N. den christli-
chen Radikalanspruch, wie ihn Luther formuliert (WA 6, 217; vgl. WA 7, 215), mit
einer bei aufgeklärten Griechen verbreiteten Skepsis, die zur Urteilsenthaltung
führt. Diese dient einem gemeinsamen Hauptziel von Epikureismus, Stoizis-
mus und Skeptizismus: der Bewahrung der Gemütsruhe (άταραξία, tranquilli-
tas animi). Das am Ende von M 82 in Anführungszeichen gesetzte Zitat ist eine
Sentenz aus Mark Aurels Selbstgesprächen, die N. aus der von ihm benutzten
Übersetzung nimmt: Mark Aurel 1866, VI, 52, 78. Die auf Pyrrhon von Elis
(ca. 360-270 v. Chr.) zurückgehende radikalste Ausprägung der Skepsis, die
sog. pyrrhonische Skepsis, orientiert sich am Lebensideal der Ataraxie und hält
das Streben nach Erkenntnis für eine diesem Lebensziel schädliche Beunruhi-
gung. Der Pyrrhonismus versucht deshalb nachzuweisen, dass es keine allge-
meingültige zweifelsfreie Erkenntnis gibt. Er beruft sich auf die ,Isosthenie',
der zufolge jeder Aussage eine ihr widersprechende (mit guten Gründen) ent-
gegengestellt werden kann. Diese Methode wendet N. immer wieder und immer
häufiger an. Vor allem lässt er schon in der Morgenröthe und noch mehr in
der Fröhlichen Wissenschaft eine Anlehnung an die wesentliche Folgerung der
pyrrhonischen Skepsis erkennen: Zweifelsfrei sei nur die momentane und sub-
jektive Vorstellung von einem ,Phänomen', das durch sinnliche Wahrnehmung
,erscheint'. Im Grundriss der pyrrhonischen Skepsis I 22 von Sextus Empiricus
heißt es: „Wir sagen nun, das Kriterium (κριτήριον) der skeptischen Schule
(τής σκεπτικής άγωγής) sei das Erscheinende, wobei wir dem Sinne nach die
Vorstellung (φαντασίαν) so nennen; denn da sie im Erleiden und einem unwill-
kürlichen Erlebnis liegt, ist sie fraglos. Deshalb wird niemand zweifeln, ob der
zugrundeliegende Gegenstand so oder so erscheint. Ob er dagegen so ist, wie
er erscheint, wird infrage gestellt (άμφισβητεΐ)".
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78, 5 Der mitleidige Christ.] Zur Diagnose des christlichen Mitleids und
seiner Bedeutung für die ,Moral' vgl. NK, S. 38-42, M 132-146 sowie die Kom-
mentare.
81
78, 10 Humanität des Heiligen.] Zu N.s Auseinandersetzung mit der
christlichen Vorstellung der Sünde und der Sündhaftigkeit des Menschen vgl.
insbesondere M 89 sowie den Kommentar.
82
78, 21 Der geistliche Überfall.] Auch hier kontrastiert N. den christli-
chen Radikalanspruch, wie ihn Luther formuliert (WA 6, 217; vgl. WA 7, 215), mit
einer bei aufgeklärten Griechen verbreiteten Skepsis, die zur Urteilsenthaltung
führt. Diese dient einem gemeinsamen Hauptziel von Epikureismus, Stoizis-
mus und Skeptizismus: der Bewahrung der Gemütsruhe (άταραξία, tranquilli-
tas animi). Das am Ende von M 82 in Anführungszeichen gesetzte Zitat ist eine
Sentenz aus Mark Aurels Selbstgesprächen, die N. aus der von ihm benutzten
Übersetzung nimmt: Mark Aurel 1866, VI, 52, 78. Die auf Pyrrhon von Elis
(ca. 360-270 v. Chr.) zurückgehende radikalste Ausprägung der Skepsis, die
sog. pyrrhonische Skepsis, orientiert sich am Lebensideal der Ataraxie und hält
das Streben nach Erkenntnis für eine diesem Lebensziel schädliche Beunruhi-
gung. Der Pyrrhonismus versucht deshalb nachzuweisen, dass es keine allge-
meingültige zweifelsfreie Erkenntnis gibt. Er beruft sich auf die ,Isosthenie',
der zufolge jeder Aussage eine ihr widersprechende (mit guten Gründen) ent-
gegengestellt werden kann. Diese Methode wendet N. immer wieder und immer
häufiger an. Vor allem lässt er schon in der Morgenröthe und noch mehr in
der Fröhlichen Wissenschaft eine Anlehnung an die wesentliche Folgerung der
pyrrhonischen Skepsis erkennen: Zweifelsfrei sei nur die momentane und sub-
jektive Vorstellung von einem ,Phänomen', das durch sinnliche Wahrnehmung
,erscheint'. Im Grundriss der pyrrhonischen Skepsis I 22 von Sextus Empiricus
heißt es: „Wir sagen nun, das Kriterium (κριτήριον) der skeptischen Schule
(τής σκεπτικής άγωγής) sei das Erscheinende, wobei wir dem Sinne nach die
Vorstellung (φαντασίαν) so nennen; denn da sie im Erleiden und einem unwill-
kürlichen Erlebnis liegt, ist sie fraglos. Deshalb wird niemand zweifeln, ob der
zugrundeliegende Gegenstand so oder so erscheint. Ob er dagegen so ist, wie
er erscheint, wird infrage gestellt (άμφισβητεΐ)".