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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0179
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164 Morgenröthe

N. kannte die Philosophie der Skepsis nicht nur aus zeitgenössischen Phi-
losophiegeschichten, sondern auch aus dem von ihm intensiv studierten und
auf die Quellen hin untersuchten Werk des Diogenes Laertius Leben und Mei-
nungen der Philosophen. Dieses spätantike Kompendium überliefert vieles, was
im Original nicht mehr erhalten ist, oft mit wörtlichen Zitaten oder zusammen-
fassenden Charakterisierungen. Von Pyrrhon selbst scheint schon die Bezeich-
nung „Skepsis" zu stammen (von griech. σκέπτομαι: ich blicke prüfend umher;
σκεπτικός: der beim Überlegen, Zweifeln, Prüfen Verharrende). Da es nach der
Lehre der Skeptiker nicht möglich ist, etwas Bestimmtes und Sicheres auszusa-
gen, weil sich unsere Wahrnehmung nur auf die Erscheinung bezieht und un-
sere Meinungen und Begriffe nur auf Satzung und Gewöhnung beruhen, statu-
ieren sie als zentrale Maßregel, dass es am besten sei, sich des Urteils völlig
zu enthalten. Ihr Begriff für die Zurückhaltung des Urteils ist έποχή. Vgl. auch
NK 6/2, 233, 22. Doch bedeutet dies nicht den Verzicht auf Erfahrung. Sextus
Empiricus nennt die Skeptiker „viel erfahrener" als die anderen. Aus der Ur-
teilsenthaltung ergibt sich auch das höchste ethische Ziel der Skeptiker: die
Erlangung unerschütterlicher Seelenruhe (Ataraxie), denn durch Urteilsenthal-
tung lasse sich Irrtum und Verwirrung vermeiden.
Obwohl N. keineswegs mit Urteilen spart, lässt er oft, auch in der Morgen-
röthe, Affinitäten zur Skepsis erkennen. Schon aus dem aufklärerischen Pro-
gramm der Vorurteilskritik, das der Untertitel seiner Schrift signalisiert, ergibt
sich die Nähe zur grundsätzlichen Skepsis gegenüber allem Urteilen. Im Kapi-
tel des Diogenes Laertius über Pyrrhon konnte N. Aussagen finden, denen sei-
ne eigenen nicht nur immer wieder gedanklich, sondern sogar bis in einzelne
Formulierungen hinein entsprechen. So berichtet Diogenes Laertius, Pyrrhon
habe sich auf den Standpunkt der „Unbegreiflichkeit der Dinge" gestellt:
„Denn nichts sei schön, nichts häßlich, nichts gerecht, nichts ungerecht; und
so gelte denn für alles durchweg der Satz, daß nichts in Wahrheit sei, vielmehr
geschehe alles, was die Menschen tun, auf Grund bloßer gesetzmäßiger Über-
einkunft und nach Maßgabe der Gewohnheit" (Diogenes Laertius IX 61). Weiter
heißt es bei Diogenes Laertius: „Die Skeptiker sahen ihre Aufgabe ununterbro-
chen darin, den Lehrsätzen der [philosophischen] Sekten sämtlich den Garaus
zu machen, ohne selbst etwas lehrsatzmäßig (dogmatisch) festzustellen; sie
beschränkten sich darauf, die Lehren der anderen vorzuführen und durchzu-
sprechen, ohne selbst sich auf bestimmte Erklärungen einzulassen, ja nicht
einmal darauf, daß sie dies nicht taten. Also sogar das Nichtbestimmen besei-
tigten sie durch einen Ausspruch wie diesen: ,Wir bestimmen nichts"' (Dioge-
nes Laertius IX 74).
Auch zu den sog. Tropen, den kategorischen Zweifeln der Skeptiker an der
Übereinstimmung der Erscheinungen mit dem denkend Erkannten, zeigen N.s
 
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