164 Morgenröthe
N. kannte die Philosophie der Skepsis nicht nur aus zeitgenössischen Phi-
losophiegeschichten, sondern auch aus dem von ihm intensiv studierten und
auf die Quellen hin untersuchten Werk des Diogenes Laertius Leben und Mei-
nungen der Philosophen. Dieses spätantike Kompendium überliefert vieles, was
im Original nicht mehr erhalten ist, oft mit wörtlichen Zitaten oder zusammen-
fassenden Charakterisierungen. Von Pyrrhon selbst scheint schon die Bezeich-
nung „Skepsis" zu stammen (von griech. σκέπτομαι: ich blicke prüfend umher;
σκεπτικός: der beim Überlegen, Zweifeln, Prüfen Verharrende). Da es nach der
Lehre der Skeptiker nicht möglich ist, etwas Bestimmtes und Sicheres auszusa-
gen, weil sich unsere Wahrnehmung nur auf die Erscheinung bezieht und un-
sere Meinungen und Begriffe nur auf Satzung und Gewöhnung beruhen, statu-
ieren sie als zentrale Maßregel, dass es am besten sei, sich des Urteils völlig
zu enthalten. Ihr Begriff für die Zurückhaltung des Urteils ist έποχή. Vgl. auch
NK 6/2, 233, 22. Doch bedeutet dies nicht den Verzicht auf Erfahrung. Sextus
Empiricus nennt die Skeptiker „viel erfahrener" als die anderen. Aus der Ur-
teilsenthaltung ergibt sich auch das höchste ethische Ziel der Skeptiker: die
Erlangung unerschütterlicher Seelenruhe (Ataraxie), denn durch Urteilsenthal-
tung lasse sich Irrtum und Verwirrung vermeiden.
Obwohl N. keineswegs mit Urteilen spart, lässt er oft, auch in der Morgen-
röthe, Affinitäten zur Skepsis erkennen. Schon aus dem aufklärerischen Pro-
gramm der Vorurteilskritik, das der Untertitel seiner Schrift signalisiert, ergibt
sich die Nähe zur grundsätzlichen Skepsis gegenüber allem Urteilen. Im Kapi-
tel des Diogenes Laertius über Pyrrhon konnte N. Aussagen finden, denen sei-
ne eigenen nicht nur immer wieder gedanklich, sondern sogar bis in einzelne
Formulierungen hinein entsprechen. So berichtet Diogenes Laertius, Pyrrhon
habe sich auf den Standpunkt der „Unbegreiflichkeit der Dinge" gestellt:
„Denn nichts sei schön, nichts häßlich, nichts gerecht, nichts ungerecht; und
so gelte denn für alles durchweg der Satz, daß nichts in Wahrheit sei, vielmehr
geschehe alles, was die Menschen tun, auf Grund bloßer gesetzmäßiger Über-
einkunft und nach Maßgabe der Gewohnheit" (Diogenes Laertius IX 61). Weiter
heißt es bei Diogenes Laertius: „Die Skeptiker sahen ihre Aufgabe ununterbro-
chen darin, den Lehrsätzen der [philosophischen] Sekten sämtlich den Garaus
zu machen, ohne selbst etwas lehrsatzmäßig (dogmatisch) festzustellen; sie
beschränkten sich darauf, die Lehren der anderen vorzuführen und durchzu-
sprechen, ohne selbst sich auf bestimmte Erklärungen einzulassen, ja nicht
einmal darauf, daß sie dies nicht taten. Also sogar das Nichtbestimmen besei-
tigten sie durch einen Ausspruch wie diesen: ,Wir bestimmen nichts"' (Dioge-
nes Laertius IX 74).
Auch zu den sog. Tropen, den kategorischen Zweifeln der Skeptiker an der
Übereinstimmung der Erscheinungen mit dem denkend Erkannten, zeigen N.s
N. kannte die Philosophie der Skepsis nicht nur aus zeitgenössischen Phi-
losophiegeschichten, sondern auch aus dem von ihm intensiv studierten und
auf die Quellen hin untersuchten Werk des Diogenes Laertius Leben und Mei-
nungen der Philosophen. Dieses spätantike Kompendium überliefert vieles, was
im Original nicht mehr erhalten ist, oft mit wörtlichen Zitaten oder zusammen-
fassenden Charakterisierungen. Von Pyrrhon selbst scheint schon die Bezeich-
nung „Skepsis" zu stammen (von griech. σκέπτομαι: ich blicke prüfend umher;
σκεπτικός: der beim Überlegen, Zweifeln, Prüfen Verharrende). Da es nach der
Lehre der Skeptiker nicht möglich ist, etwas Bestimmtes und Sicheres auszusa-
gen, weil sich unsere Wahrnehmung nur auf die Erscheinung bezieht und un-
sere Meinungen und Begriffe nur auf Satzung und Gewöhnung beruhen, statu-
ieren sie als zentrale Maßregel, dass es am besten sei, sich des Urteils völlig
zu enthalten. Ihr Begriff für die Zurückhaltung des Urteils ist έποχή. Vgl. auch
NK 6/2, 233, 22. Doch bedeutet dies nicht den Verzicht auf Erfahrung. Sextus
Empiricus nennt die Skeptiker „viel erfahrener" als die anderen. Aus der Ur-
teilsenthaltung ergibt sich auch das höchste ethische Ziel der Skeptiker: die
Erlangung unerschütterlicher Seelenruhe (Ataraxie), denn durch Urteilsenthal-
tung lasse sich Irrtum und Verwirrung vermeiden.
Obwohl N. keineswegs mit Urteilen spart, lässt er oft, auch in der Morgen-
röthe, Affinitäten zur Skepsis erkennen. Schon aus dem aufklärerischen Pro-
gramm der Vorurteilskritik, das der Untertitel seiner Schrift signalisiert, ergibt
sich die Nähe zur grundsätzlichen Skepsis gegenüber allem Urteilen. Im Kapi-
tel des Diogenes Laertius über Pyrrhon konnte N. Aussagen finden, denen sei-
ne eigenen nicht nur immer wieder gedanklich, sondern sogar bis in einzelne
Formulierungen hinein entsprechen. So berichtet Diogenes Laertius, Pyrrhon
habe sich auf den Standpunkt der „Unbegreiflichkeit der Dinge" gestellt:
„Denn nichts sei schön, nichts häßlich, nichts gerecht, nichts ungerecht; und
so gelte denn für alles durchweg der Satz, daß nichts in Wahrheit sei, vielmehr
geschehe alles, was die Menschen tun, auf Grund bloßer gesetzmäßiger Über-
einkunft und nach Maßgabe der Gewohnheit" (Diogenes Laertius IX 61). Weiter
heißt es bei Diogenes Laertius: „Die Skeptiker sahen ihre Aufgabe ununterbro-
chen darin, den Lehrsätzen der [philosophischen] Sekten sämtlich den Garaus
zu machen, ohne selbst etwas lehrsatzmäßig (dogmatisch) festzustellen; sie
beschränkten sich darauf, die Lehren der anderen vorzuführen und durchzu-
sprechen, ohne selbst sich auf bestimmte Erklärungen einzulassen, ja nicht
einmal darauf, daß sie dies nicht taten. Also sogar das Nichtbestimmen besei-
tigten sie durch einen Ausspruch wie diesen: ,Wir bestimmen nichts"' (Dioge-
nes Laertius IX 74).
Auch zu den sog. Tropen, den kategorischen Zweifeln der Skeptiker an der
Übereinstimmung der Erscheinungen mit dem denkend Erkannten, zeigen N.s