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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0197
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182 Morgenröthe

Schlüssen zu suchen: ,was mir schadet, das ist etwas Böses (an sich Schädi-
gendes); was mir nützt, das ist etwas Gutes (an sich Wohlthuendes und Nut-
zenbringendes)" (90, 20-24). N. schließt sich unter dem Aspekt des „Ur-
sprungs" einer längst bekannten ethischen Theorie an, welche die Ethik we-
sentlich auf Nutzen und Schaden gründet. Epikur, auf den sich N. oft beruft,
ist die antike Muster-Instanz dieser Ethik; ihr zeitgenössischer Hauptvertreter
ist John Stuart Mill mit seinem Werk Utilitarianism. N. studierte Mills Werke,
deren deutsche Übersetzung er in seiner persönlichen Bibliothek hatte, inten-
siv und setzte sich mit dem Nützlichkeitsprinzip als Grundlage einer auf das
Gemeinwohl ausgerichteten Ethik heftig auseinander, so in dem „Versuch einer
Selbstkritik", den er der Neuausgabe seiner Geburt der Tragödie 1886 voran-
stellte, und in Jenseits von Gut und Böse 228, wo er das Thema breit entfaltet.
Noch später verschärft sich die Polemik zusehends. In der Götzen-Dämmerung
heißt es: „Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das"
(KSA 6, 61, 1-2). N., der gerade nicht das Gemeinwohl als ethisches Ziel aner-
kennt, gerät mit seiner Darstellung in einen Selbstwiderspruch, indem er in
seinem Angriff auf moralische Urteile seinerseits ,moralisch' wertet - er spricht
von den „abscheulichen" kleinen Schlüssen und von einem „schämenswerten"
Ursprung („pudenda origo"), womit er eine schon in M 42 exponierte Formel
wieder aufnimmt (50, 18). Mit ihr wandelt er eine von Schopenhauer auf den
Ursprung des Lebens im Geschlechtsakt bezogene Formel ab („poenitenda ori-
go"; WWV II, Viertes Buch, Kap. 45; Schopenhauer 1873, Bd. 3, 653), um sie
auf das Nützlichkeitsdenken zu beziehen.
Ein weiterer Selbstwiderspruch ergibt sich im Hinblick auf den übernächs-
ten Text (M 104): „Unsere Werthschätzungen". Dort heißt es: „Eigene
Werthschätzung: das will besagen, eine Sache in Bezug darauf messen, wie
weit sie gerade uns und niemandem Anderen Lust oder Unlust macht" (92,
13-16). Hier wird durch die Begriffe „Lust" und „Unlust" die Anlehnung an
Leitbegriffe Epikurs erkennbar. Und dass nun die Erfahrung von Lust oder Un-
lust die positiv gesehenen „Werthschätzungen" als „etwas äußerst Seltenes!"
bestimmen soll, wie N. insbesondere in dem von ihm intensiv herangezogenen
Handbuch der Moral von Johann Julius Baumann lesen konnte (Baumann 1879,
65-70 u. ö.), entspricht weitgehend der Erfahrung von Nutzen („Wohlthuen-
des") oder Schaden, die er soeben noch in M 102 als Ursprung gemeinhin ver-
breiteter moralischer Urteile negativ bewertet hatte. Während allerdings in M
102 noch vom „Ursprung aller Moral" die Rede ist, versucht N., indem er
wie schon Baumann (1879, 59) jetzt von „Werthschätzungen" spricht, eine radi-
kal individualistische Sicht zu etablieren, jenseits einer allgemein verbindli-
chen Moral. Es geht um ganz „eigene" Wertschätzungen (92, 13), deren Lebens-
bezug „gerade uns und niemandem Anderen" (92, 15) Lust oder Unlust macht.
 
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