Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 91 183
Dieser Satz ist auch in sich selbst widersprüchlich, insofern er den Plural „uns"
verwendet und dann anfügt „niemandem Anderen". Dies entspricht N.s Vorlie-
be, von sich selbst im Plural („wir") zu sprechen. Anschließend pointiert N.
nochmals das „Eigene": es gehe um „unsere eigene Bestimmung" (92, 19).
Diese Wendung erinnert, analog manchen anderen Texten der Morgenröthe, an
den anarchistischen Radikal-Individualismus, den Max Stirner in seiner Schrift
Der Einzige und sein Eigentum (1845) vertreten hatte.
103
91, 7 f. Es giebt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit.] Die ers-
te Art der Sittlichkeits-Leugnung, die auf der Behauptung beruht, dass die
Menschen sittliche Motive lediglich „angeben", um damit über die wahren,
nämlich egoistischen Motive hinwegzutäuschen, soll La Rochefoucaulds
Grundposition entsprechen. N. lässt allerdings den spezifischen historischen
Kontext außer Acht: Der französische Grand Seigneur schrieb im 17. Jahrhun-
dert unter dem Eindruck einer höfischen Kultur, deren Verhaltenskodex ganz
auf gesellschaftlichen Schein ausgerichtet war und entsprechende Strategien
ausbildete. La Rochefoucauld, den N. alsbald nennt (91, 22), baut seine Refle-
xions ou sentences et maximes morales (1665-78) daher auf der Opposition von
Sein und Schein auf. Er kann mithin gerade nicht, wie N. meint, zu den „Leug-
nern der Sittlichkeit" gerechnet werden, denn indem er pessimistisch und mo-
ralkritisch den trügerischen Schein eines angeblich sittlichen Verhaltens ent-
larvt, tut er dies notwendigerweise von einem moralischen Standpunkt aus.
Er leugnet also nicht die Sittlichkeit als solche, sondern nimmt lediglich die
Maskerade der Schein-Sittlichkeit ins Visier. Deshalb auch wählte er als Fronti-
spiz seines Werks ein Bild Senecas, dem die (Moral-)Maske vom Gesicht geris-
sen wird; bereits der spätrömische Geschichtsschreiber Cassius Dio hatte Sene-
ca als Heuchler dargestellt.
Die zweite Art von Leugnung der Sittlichkeit - „mein Gesichtspunct",
sagt N. (91, 19) - macht nicht das gesellschaftlich geprägte Verhalten zum Ge-
genstand, sondern geht ins Prinzipielle. N. bestreitet, „dass die sittlichen Ur-
theile auf Wahrheiten beruhen" (91, 15 f.). Deshalb versucht er nachzuweisen,
dass sie durch „Irrthümer" bedingt sind, und zwar nicht nur durch bewuss-
te, sondern auch durch gefühlsmäßig internalisierte Irrtümer. Die Methode,
deren er sich hierfür bedient, ist die genealogische. Doch übernimmt N. in zahl-
reichen Texten der Morgenröthe auch das moralistische Schema La Rochefou-
caulds. Sein Freund Paul Ree, mit dem er während der Entstehungszeit einen
intensiven Gedanken-Austausch pflegte, orientiert sich in seinen Schriften so-
gar explizit an La Rochefoucauld. Es lässt sich nicht genau feststellen, was N.
Dieser Satz ist auch in sich selbst widersprüchlich, insofern er den Plural „uns"
verwendet und dann anfügt „niemandem Anderen". Dies entspricht N.s Vorlie-
be, von sich selbst im Plural („wir") zu sprechen. Anschließend pointiert N.
nochmals das „Eigene": es gehe um „unsere eigene Bestimmung" (92, 19).
Diese Wendung erinnert, analog manchen anderen Texten der Morgenröthe, an
den anarchistischen Radikal-Individualismus, den Max Stirner in seiner Schrift
Der Einzige und sein Eigentum (1845) vertreten hatte.
103
91, 7 f. Es giebt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit.] Die ers-
te Art der Sittlichkeits-Leugnung, die auf der Behauptung beruht, dass die
Menschen sittliche Motive lediglich „angeben", um damit über die wahren,
nämlich egoistischen Motive hinwegzutäuschen, soll La Rochefoucaulds
Grundposition entsprechen. N. lässt allerdings den spezifischen historischen
Kontext außer Acht: Der französische Grand Seigneur schrieb im 17. Jahrhun-
dert unter dem Eindruck einer höfischen Kultur, deren Verhaltenskodex ganz
auf gesellschaftlichen Schein ausgerichtet war und entsprechende Strategien
ausbildete. La Rochefoucauld, den N. alsbald nennt (91, 22), baut seine Refle-
xions ou sentences et maximes morales (1665-78) daher auf der Opposition von
Sein und Schein auf. Er kann mithin gerade nicht, wie N. meint, zu den „Leug-
nern der Sittlichkeit" gerechnet werden, denn indem er pessimistisch und mo-
ralkritisch den trügerischen Schein eines angeblich sittlichen Verhaltens ent-
larvt, tut er dies notwendigerweise von einem moralischen Standpunkt aus.
Er leugnet also nicht die Sittlichkeit als solche, sondern nimmt lediglich die
Maskerade der Schein-Sittlichkeit ins Visier. Deshalb auch wählte er als Fronti-
spiz seines Werks ein Bild Senecas, dem die (Moral-)Maske vom Gesicht geris-
sen wird; bereits der spätrömische Geschichtsschreiber Cassius Dio hatte Sene-
ca als Heuchler dargestellt.
Die zweite Art von Leugnung der Sittlichkeit - „mein Gesichtspunct",
sagt N. (91, 19) - macht nicht das gesellschaftlich geprägte Verhalten zum Ge-
genstand, sondern geht ins Prinzipielle. N. bestreitet, „dass die sittlichen Ur-
theile auf Wahrheiten beruhen" (91, 15 f.). Deshalb versucht er nachzuweisen,
dass sie durch „Irrthümer" bedingt sind, und zwar nicht nur durch bewuss-
te, sondern auch durch gefühlsmäßig internalisierte Irrtümer. Die Methode,
deren er sich hierfür bedient, ist die genealogische. Doch übernimmt N. in zahl-
reichen Texten der Morgenröthe auch das moralistische Schema La Rochefou-
caulds. Sein Freund Paul Ree, mit dem er während der Entstehungszeit einen
intensiven Gedanken-Austausch pflegte, orientiert sich in seinen Schriften so-
gar explizit an La Rochefoucauld. Es lässt sich nicht genau feststellen, was N.