192 Morgenröthe
ches I hatte N. die „Gewohnheit" als „Quelle der Moralität" behandelt und aus
ihr die „Sitte", ja geradezu die „Lust in der Sitte" hergeleitet (MA I 97, KSA
2, 94).
Die zeitgenössische Freidenker-Literatur, in deren Zusammenhang N.s
Morgenröthe wie schon Menschliches, Allzumenschliches und dann Die fröhliche
Wissenschaft steht, aktualisiert die Rückführung moralischer und ästhetischer
Wertungen auf bloße Gewohnheiten. Im Zuge dieser Aktualisierung werden die
früheren Argumentationen durch historische, physiologische und ethnologi-
sche Erkenntnisse angereichert. Ludwig Büchner, der Protagonist der deut-
schen Freidenker-Bewegung, schreibt in seinem weitverbreiteten und in alle
Sprachen übersetzten Buch Kraft und Stoff (1855, 14. deutsche Auflage 1876):
„Wären die ästhetischen, moralischen und metaphysischen Begriffe angebo-
ren, unmittelbar, übernatürlich, so müßten sie natürlich auch überall eine voll-
kommene Gleichförmigkeit besitzen, sie müßten identisch sein; sie müßten ei-
nen absoluten Werth, eine absolute Geltung haben. In der That aber sehen
wir, daß dieselben im höchsten Grade relativ sind, und daß sie sowohl bei
Einzelnen, wie bei allen Völkern und zu verschiedenen Zeiten die allergrößten
Verschiedenheiten zeigen - Verschiedenheiten, welche manchmal so groß wer-
den, daß geradezu Entgegengesetztes dadurch entsteht [...] Wir finden etwas
schön oder zweckmäßig, weil wir uns daran gewöhnt haben [...] Griechen und
Römer wußten wenig oder nichts von den Schönheiten der Natur, welche wir
heute so sehr bewundern [...] Die Chinesen finden es allerliebst, wenn eine
Frau möglichst dick ist und so kleine Füße hat, daß sie nicht gehen kann [...]
Den Frauen einiger süd-afrikanischer Negerstämme gibt ein hohler oder schüs-
selförmiger Ring, den sie in der Oberlippe tragen, das s. g. Pelele, ein abstoßen-
des Ansehen. Livingstone fragte einen Häuptling um die Ursache dieser Sitte.
Ganz verwundert antwortete er: ,Nun, der Schönheit wegen! Das ist ja das ein-
zige Schöne, was die Weiber haben. Männer haben Bärte, Weiber nicht. Was
wären sie ohne Pelele?' - Andere Wilden wieder halten den Bart für etwas sehr
Unschönes. ,Wir wissen', sagt Darwin (die Abstammung des Menschen), ,daß
bei Wilden die Männer der bartlosen Rassen sich unendliche Mühe geben, je-
des einzelne Haar aus ihrem Gesicht als etwas Widerwärtiges auszureißen,
während die Männer der bebarteten Rassen den größten Stolz auf ihren Bart
setzen'. Die bartlosen Neuseeländer haben ein Sprüchwort, welches besagt,
,daß es für einen haarigen Mann keine Frau gibt', während die Mohammedaner
den Bart für etwas so Wichtiges halten, daß sie ,beim Barte des Propheten'
schwören" (Büchner 1876, 243 f.).
Nach der Feststellung „Diese Beispiele gründlicher Verschiedenheit ästhe-
tischer Begriffe ließen sich beliebig häufen" geht Ludwig Büchner zu einer ana-
logen Betrachtung „moralischer Begriffe" über, die er ebenfalls mit zahlreichen
ches I hatte N. die „Gewohnheit" als „Quelle der Moralität" behandelt und aus
ihr die „Sitte", ja geradezu die „Lust in der Sitte" hergeleitet (MA I 97, KSA
2, 94).
Die zeitgenössische Freidenker-Literatur, in deren Zusammenhang N.s
Morgenröthe wie schon Menschliches, Allzumenschliches und dann Die fröhliche
Wissenschaft steht, aktualisiert die Rückführung moralischer und ästhetischer
Wertungen auf bloße Gewohnheiten. Im Zuge dieser Aktualisierung werden die
früheren Argumentationen durch historische, physiologische und ethnologi-
sche Erkenntnisse angereichert. Ludwig Büchner, der Protagonist der deut-
schen Freidenker-Bewegung, schreibt in seinem weitverbreiteten und in alle
Sprachen übersetzten Buch Kraft und Stoff (1855, 14. deutsche Auflage 1876):
„Wären die ästhetischen, moralischen und metaphysischen Begriffe angebo-
ren, unmittelbar, übernatürlich, so müßten sie natürlich auch überall eine voll-
kommene Gleichförmigkeit besitzen, sie müßten identisch sein; sie müßten ei-
nen absoluten Werth, eine absolute Geltung haben. In der That aber sehen
wir, daß dieselben im höchsten Grade relativ sind, und daß sie sowohl bei
Einzelnen, wie bei allen Völkern und zu verschiedenen Zeiten die allergrößten
Verschiedenheiten zeigen - Verschiedenheiten, welche manchmal so groß wer-
den, daß geradezu Entgegengesetztes dadurch entsteht [...] Wir finden etwas
schön oder zweckmäßig, weil wir uns daran gewöhnt haben [...] Griechen und
Römer wußten wenig oder nichts von den Schönheiten der Natur, welche wir
heute so sehr bewundern [...] Die Chinesen finden es allerliebst, wenn eine
Frau möglichst dick ist und so kleine Füße hat, daß sie nicht gehen kann [...]
Den Frauen einiger süd-afrikanischer Negerstämme gibt ein hohler oder schüs-
selförmiger Ring, den sie in der Oberlippe tragen, das s. g. Pelele, ein abstoßen-
des Ansehen. Livingstone fragte einen Häuptling um die Ursache dieser Sitte.
Ganz verwundert antwortete er: ,Nun, der Schönheit wegen! Das ist ja das ein-
zige Schöne, was die Weiber haben. Männer haben Bärte, Weiber nicht. Was
wären sie ohne Pelele?' - Andere Wilden wieder halten den Bart für etwas sehr
Unschönes. ,Wir wissen', sagt Darwin (die Abstammung des Menschen), ,daß
bei Wilden die Männer der bartlosen Rassen sich unendliche Mühe geben, je-
des einzelne Haar aus ihrem Gesicht als etwas Widerwärtiges auszureißen,
während die Männer der bebarteten Rassen den größten Stolz auf ihren Bart
setzen'. Die bartlosen Neuseeländer haben ein Sprüchwort, welches besagt,
,daß es für einen haarigen Mann keine Frau gibt', während die Mohammedaner
den Bart für etwas so Wichtiges halten, daß sie ,beim Barte des Propheten'
schwören" (Büchner 1876, 243 f.).
Nach der Feststellung „Diese Beispiele gründlicher Verschiedenheit ästhe-
tischer Begriffe ließen sich beliebig häufen" geht Ludwig Büchner zu einer ana-
logen Betrachtung „moralischer Begriffe" über, die er ebenfalls mit zahlreichen