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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0206
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Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 99 191

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99, 22 An die Bewunderer der Objectivität.] N. variiert einen Gedan-
ken, den er schon in Μ 34 und Μ 35 und dann wieder in Μ 104 formuliert, wo
es heißt, dass wir „meist zeitlebens die Narren kindlicher angewöhnter Urthei-
le" sind (92, 21 f.). Sowohl der generelle Gedanke der Gewohnheit wie der spezi-
elle der kindlichen Prägung, die später unreflektiert als ,natürlich' und ,objek-
tiv' gültig empfunden wird, findet bereits in Pascals Pensees markanten Aus-
druck. Darin gibt es eine ganze Sequenz zum Thema „Gewohnheit" (coutume).
So heißt es über die Macht der Gewohnheit im Hinblick auf die zuerst in der
Kindheit stattfindende Internalisierung von Gewohnheiten: „Qu'est ce que nos
principes naturels, sinon nos principes accoutumes, et, dans les enfants, ceux
qu'ils ont regus de la coutume de leurs peres, comme la chasse dans les ani-
maux? / Une differente coutume nous donnera d'autres principes naturels, cela
se voit par experience". In der Übersetzung, die N. in seiner persönlichen Bib-
liothek besaß und die er, nach Ausweis der Lesespuren, intensiv studierte,
steht der Passus in: Pascal 1865, 2. Theil, 109: „Was sind unsere natürlichen
Prinzipien Anderes, als angewohnte Prinzipien? Die Kinder erbten sie aus der
Gewohnheit ihrer Väter, wie die Jagd bei den Thieren [falsche Übersetzung
statt: „auf die Tiere"]. Eine verschiedene Gewohnheit wird auch andere natürli-
che Prinzipien schaffen. Das erkennt man aus Erfahrung". Mit zahlreichen Bei-
spielen hatte dies vorher schon Montaigne in einem eigenen Kapitel seiner Es-
sais ausgeführt (Montaigne 1864, Livre I, Chapitre XXIII: „De la coustume et
de ne changer aisement une loy receüe" - ,Über die Gewohnheit und dass es
nicht leicht ist, ein etabliertes Gesetz zu ändern'). Er stellt fest: „Les loix de la
conscience, que nous disons naistre de nature, naissent de la coustume" -
„Die Gesetze des Gewissens, von denen wir behaupten, dass sie aus der Natur
stammen, stammen aus der Gewohnheit". Grundsätzlich hatte bereits Aristote-
les tugendhaftes Verhalten auf Gewöhnung zurückgeführt, im Unterschied zur
naturhaft vorhandenen Verstandesbegabung. Das zweite Buch der Nikomachi-
schen Ethik beginnt mit der Feststellung: „Es gibt Vorzüge des Verstandes (dia-
noetische) und Vorzüge des Charakters (ethische). Die ersteren nun gewinnen
Ursprung und Wachstum vorwiegend durch Lehre, weshalb sie Erfahrung und
Zeit brauchen, die letzteren sind das Ergebnis von Gewöhnung [...] Also entste-
hen die sittlichen Vorzüge in uns weder durch Naturzwang noch gegen die
Natur, sondern es ist unsere Natur, fähig zu sein sie aufzunehmen, und dem
vollkommenen Zustande nähern wir uns dann durch Gewöhnung" (Nikomachi-
sche Ethik 1103 a 14-26, Übersetzung von Franz Dirlmeier). Anders als N. hat
Aristoteles eine positive, perfektibilistisch auf die άρητή ausgerichtete Per-
spektive. Pascal unterscheidet nicht, wie Aristoteles, zwischen Natur und Ge-
wöhnung; er hebt den Unterschied auf. Bereits in Menschliches, Allzumenschli-
 
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