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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0255
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240 Morgenröthe

vgl. NK Μ 82) stehende Vorliebe für das Paradox, um einen antidogmatischen
Gestus zu markieren, um zu provozieren und auch um Aporien zu inszenieren.
Aus der Haltung der philosophischen Skepsis hatte Cicero in seinem Werk Pa-
radoxa Stoicorum gerade mit Blick auf die Stoa, die für die Moralkritik der Mor-
genröthe von besonderer Bedeutung ist, systematisch Paradoxien herausgear-
beitet. Bereits im übernächsten Text (Μ 163) führt N. die paradoxal operierende
Strategie einer die Möglichkeit von „Wahrheit" grundsätzlich in Frage stellen-
den Skepsis fort: Er setzt sogar „Paradoxon gegen Paradoxon" (146, 23).

162
146, 5 Die Ironie der Gegenwärtigen.] Die Quelle dieses Apergus ist
Stendhals Schrift De l'amour, § XLII: „Le ton du grand monde est: / 1° De traiter
avec ironie tous les grands interets. Rien de plus naturel; autrefois les gens
veritablement du grand monde ne pouvaient etre profondement affectes par
rien; ils n'en avaient pas le temps. Le sejour ä la campagne change cela" ( „Der
Ton der [scheinbar] großen Welt [d. h.: der vornehmen Gesellschaft von heute]
ist: / 1° Alle großen Interessen mit Ironie behandeln. Nichts ist natürlicher;
früher konnten die wirklich Vornehmen von nichts tief affiziert werden weil
sie dafür keine Zeit hatten. Der Aufenthalt auf dem Lande [d. h.: nicht in der
Gesellschaft] ändert das"; Nachweis: Brusotti 2001, 432 f.). N. übernimmt nur
ein Element aus Stendhals Apergu, verändert aber den Sinn. Stendhals ironi-
sche Pointe in seinem ersten Satz lässt sich nicht wörtlich wiedergeben: die
Korrelierung von „grand monde" und „grands interets", welche den „grand
Monde" als gerade nicht „grand" ausweist (Stendhal bedauert immer wieder
die kleingeratene Gegenwart). N. kontaminiert die Aussage in Stendhals ers-
tem und zweitem Satz und beseitigt damit den von Stendhal markierten Gegen-
satz von Jetzt und Einst (autrefois).

163
146, 10 Gegen Rousseau.] Vgl. Μ 17. Die Gegnerschaft N.s gegen Rousseau
zeichnet sich von Anfang an ab. Sie war in der Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik wesentlich motiviert von N.s Ablehnung aller revolutionären
Bestrebungen und von der Wahrnehmung des revolutionären Potentials in
Rousseaus Schriften, vor allem in dessen Discours sur l'inegalite. Vgl. NK 1/1,
122, 32-123, 4. Dennoch zeigt sich auch schon in der Erstlingsschrift die später
fortdauernde Ambivalenz gegenüber Grundpositionen Rousseaus - N. verherr-
licht in GT Ur-Zustände einer noch natürlichen Menschheit und übt entspre-
 
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