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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0256
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Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 146 241

chend Zivilisationskritik an einer epigonalen (später: dekadenten) Gegenwarts-
zivilisation. In der Morgenröthe beruft er sich immer wieder, nunmehr im Sinne
seiner Moral-Kritik, die auch Zivilisationskritik ist, auf urtümliche Zustände,
deren Darstellung er in der von ihm herangezogenen ethnologischen Literatur
fand. Vgl. NK M 148.
164
146, 27 Vielleicht verfrüht.] Der erste Satz dieser Erörterung beginnt mit
einem unmittelbar auf die zeitgenössische Aktualität zielenden „Gegenwärtig"
(146, 27). N. thematisiert eine besondere Entwicklung in der Sphäre derjenigen,
denen er sich selbst - als Freigeist - zurechnet: Es werden „von Seiten Derer,
welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden halten, die
ersten Versuche gemacht [...], sich zu organisiren" (147, 1-3). Damit denkt N. in
erster Linie an den internationalen Freidenker-Verband', der im Jahr 1880, also
gerade in der Zeit gegründet wurde, in der er an der Morgenröthe arbeitete.
Auch die anarchistische Bewegung organisierte sich; Bakunin schuf die erste
internationale revolutionär-anarchistische Organisation. Die Gegensätze zwi-
schen sozialistischen und anarchistischen Gruppen führten 1872 zum Aus-
schluss der Anhänger Bakunins aus der ersten Internationale. N. war mit Baku-
nin und dem Anarchismus schon durch Wagners revolutionär-anarchistische
Vergangenheit bekannt. Wagner hatte 1849 mit Bakunin und Semper am
Dresdner Mai-Aufstand teilgenommen. In seiner von N. intensiv studierten
Hauptschrift Oper und Drama (1851) gab Wagner die anarchistische Losung
aus: „Den Staat vernichten!" (GSD IV, 67) Die individualistische Grundierung
geht aus dem Kontext hervor: „[...] Die allen Gliedern der Gesellschaft gemein-
same Nothwendigkeit der freien Selbstbestimmung des Individuums, heißt
aber so viel, als - den Staat vernichten; denn der Staat schritt durch
die Gesellschaft zur Verneinung der freien Selbstbestimmung des Individuums
vor, - von ihrem Tode lebte er. / Für die Kunst, um die es bei dieser Untersu-
chung uns einzig zu thun war, liegt in der Vernichtung des Staates nun folgen-
des, über Alles wichtige Moment. / Die Darstellung des Kampfes [...]" (GSD IV,
66-67; vgl. UB IV: Richard Wagner in Bayreuth, KSA 1, 451, 14-18). N. sympathi-
sierte gelegentlich mit dieser radikalen Tendenz (NL 1869/1870, 3[11], KSA 7,
62, 18), auch wenn er sie wegen ihrer Nähe zum Sozialismus ablehnte. Vgl.
hierzu M 184. Er selbst favorisierte einen aristokratisch getönten individualisti-
schen Anarchismus, den er aber schon in M 149 auf das Kleinformat von „Ab-
weichungen" von der geltenden ,Moral' zurücknimmt („Kleine abwei-
chende Handlungen thun noth"). Auch hier, in M 164, denkt er an die
„Abweichenden" (147, 14), nunmehr allerdings in etwas größeren Dimensio-
 
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