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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0254
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Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 145 239

terisiert, ist durch seine inzwischen kritische Einschätzung Wagners mitbe-
dingt. Er ordnet ihn der generell „nervösen" Verfassung der zeitgenössischen
Kunst und Literatur zu: „Wagner est une nevrose" (WA, KSA 6, 22, 33; hierzu
NK 6/1, 22, 33). Schon in der Geburt der Tragödie, in der er noch ganz im Bann
Wagners steht und sich demzufolge gegen das klassizistische Schönheitsideal
Eduard Hanslicks wendet, des bedeutendsten Wagner-Kritikers (Verdi nannte
ihn den „Bismarck der Musikkritik"), tritt der hier exponierte Gegensatz hervor
(vgl. NK 1/1, 127, 22-27). Nun allerdings wählt N. eine weiterreichende Opposi-
tion, indem er sich auf die „Griechen, im Banne ihrer Moral des Maasses" be-
zieht (145, 28). Von letzterer spricht N. im Hinblick darauf, dass die Griechen
das Maßhalten zu einer zentralen ethischen Forderung erhoben, um die Gefahr
einer Überschreitung auf das Extreme hin zu bannen. Ein Spruch, der einem
der Sieben Weisen zugeschrieben wurde, diente als Leitmaxime: „Nichts im
Übermaß" (μηδέν άγαν). Vgl. hierzu besonders M 559: „Nicht zu sehr" und
NK hierzu. In den Tragödien-Dichtungen der Griechen wird das Überschreiten
des Maßes sowohl im Verhältnis der Menschen zu den Göttern wie auch im
Verhältnis der Menschen zueinander als zerstörerisch dargestellt. Die ethische
Forderung des Maßhaltens wurde aber auch ins Ästhetische übertragen und
insbesondere mit Apollon verbunden. Implizit verrät auch hier die Betonung
des „Maßes" die Distanzierung von der Maßlosigkeit Wagners. In UB IV: Ri-
chard Wagner in Bayreuth heißt es, in seiner Art „lag fast immer eine Maasslo-
sigkeit" (KSA 1, 441, 10). Schon im Vorfeld der Wagner-Schrift, in nachgelasse-
nen Notaten von Anfang 1874, konstatiert N. Wagners Maßlosigkeit auch im
künstlerischen Ausdruck: „Er sammelt alle wirksamen Elemente, in einer
Zeit, die sehr rohe und starke Mittel wegen ihrer Stumpfheit braucht. Das
Prächtige Berauschende Verwirrende das Grandiose das Schreckliche Lärmen-
de Hässliche Verzückte Nervöse Alles ist im Recht. Ungeheure Dimensionen,
ungeheure Mittel" (32[57], KSA 7, 774).
Der Apollo vom Belvedere (so genannt nach dem Aufstellungsort in Rom)
ist eine römische Marmorkopie nach einem verlorenen frühhellenistischen
Bronze-Original, das wahrscheinlich von dem attischen Bildhauer Leochares
(um 350 v. Chr.) stammt. Die Statue wurde im 15. Jahrhundert gefunden und
galt der klassizistischen Ästhetik im 18. Jahrhundert als Ideal der Schönheit.
Berühmt wurde Winckelmanns Prosa-Hymnus auf den Apoll vom Belvedere in
seiner Geschichte der Kunst des Alterthums. Darin bezeichnete er die Statue als
„das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Alterthums, welche der
Zerstörung derselben entgangen sind" (Winckelmann 1764, 392). N.s Satz „Wir
sollten ihn [den Apollo vom Belvedere] eigentlich hässlich nennen" (146, 2)
ist wie der folgende perspektivisch und bewusst provokant formuliert. N. kulti-
viert immer wieder eine in der Tradition der philosophischen Skepsis (zu dieser
 
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