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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0253
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238 Morgenröthe

abhängig machen, weil es ihnen an eigner Substanz und darauf gründendem
Selbstbewusstsein fehlt. Ausführlich kritisiert Schopenhauer die noch im obso-
leten zeitgenössischen Ehrbegriff bis ins Lächerliche gehende ,Eitelkeit' (Scho-
penhauer 1874, Bd. 5, 373-429). Ausdrücklich beruft er sich hierbei auf La Ro-
chefoucauld. Schon in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung I
spricht er vom Lächerlichen, das „besonders in Eigendünkel und Eitelkeit her-
vortritt, welche, so wie kein Anderer, Rochefoucault [sic] aufgefaßt und in abs-
tracto dargestellt hat" (WWV I, Viertes Buch, § 61, Schopenhauer 1873, Bd. 2,
393). Trotz seiner sonst so scharfen Kritik am Christentum und der von ihm
geprägten Moral empfiehlt N. den Eitlen „recht viel christliche Praxis" (145,
22), die er an anderer Stelle psychologisch hinterfragt und die auch seinem
Plädoyer für den Egoismus und das „Ego" in früheren Texten der Morgenröthe
nicht entspricht. Seine Empfehlung gilt aber nicht für die starken Egoisten,
sondern nur für die als dumm charakterisierten Eitlen, so dass sie ironisch zu
verstehen ist.
Das Thema der Eitelkeit reflektiert N. mit ausdrücklicher Hervorhebung,
dass es sich um ein Thema der „Moralisten" handelt, in Menschliches, Allzu-
menschliches II: Der Wanderer und sein Schatten 60, in einem ganz anderen
Sinn: „Das Wort ,Eitelkeit'. - Es ist lästig, dass einzelne Worte, deren wir
Moralisten schlechterdings nicht entrathen können, schon eine Art Sittencen-
sur in sich tragen, aus jenen Zeiten her, in denen die nächsten und natürlichs-
ten Regungen des Menschen verketzert wurden. So wird jene Grundüberzeu-
gung, dass wir auf den Wellen der Gesellschaft viel mehr durch Das, was wir
gelten, als durch Das, was wir sind, gutes Fahrwasser haben oder Schiff-
bruch leiden - eine Ueberzeugung, die für alles Handeln in Bezug auf die Ge-
sellschaft das Steuerruder sein muss - mit dem allgemeinsten Worte ,Eitelkeit',
,vanitas' bezeichnet und gebrandmarkt, eines der vollsten und inhaltreichsten
Dinge mit einem Ausdruck, welcher dasselbe als das eigentlich Leere und Nich-
tige bezeichnet, etwas Grosses mit einem Deminutivum, ja mit den Federstri-
chen der Carricatur. Es hilft Nichts, wir müssen solche Worte gebrauchen, aber
dabei unser Ohr den Einflüsterungen alter Gewohnheit verschliessen" (KSA 2,
579, 15-30). Zur ,moralischen' Eitelkeit vgl. Μ 558 und NK hierzu.
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145, 25 Schönheit gemäss dem Zeitalter.] Dieser Text ist ein besonders
deutliches Beispiel für die Strategie einer relativierenden Historisierung, die
alles vom „Sinn der Zeit" (145, 26) abhängig macht und keine Norm aner-
kennt - hier keine ästhetische Norm. Dass N. das vorgebliche Schönheitsideal
seiner Zeit mit den Worten „gedunsen, riesenhaft und nervös" (145, 27) charak-
 
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