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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0301
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286 Morgenröthe

relativiert ,moralische' Grundbegriffe wie „Verbrecher", „Rache" und vor allem
„Strafe". N. adaptiert damit ganz ähnlich wie sein Freund Paul Ree die natura-
listische Reduktion der Moral. Ohnehin war die Strafrechtstheorie im 19. Jahr-
hundert starken Wandlungen unterworfen. Anselm von Feuerbach, der Be-
gründer des deutschen Strafrechts mit seinem zunächst vorbildhaft wirkenden
Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813, war noch von dem Gedanken ausgegan-
gen, dass Abschreckung und Furcht vor Strafe wesentliche Zwecke seien. Diese
,Furchttheorie', die nicht die Verhältnismäßigkeit von konkreter Schuld und
Strafe ins Zentrum stellt (letzteres kritisiert N. in 177, 16-19; 178, 21 24), wurde
schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt und provozier-
te Gegenentwürfe. Besondere Aktualität hatte das Thema der Strafe durch die
nach der Gründung des Kaiserreichs 1871 beginnende Kodifikation reichsweit
geltender Rechtsmaterien erhalten. Die verschiedenen Strafgesetzbücher in
den einzelnen deutschen Ländern wurden von dem aus bürgerlich-liberalem
Geist entstandenen Reichsstrafgesetzbuch von 1871 abgelöst, das bereits 1872
in Kraft treten konnte. Es stand am Anfang der mit der Reichsgründung einset-
zenden Kodifikationswelle. Eine 1873 vorgenommene Verfassungsänderung
räumte dem Reich die erforderliche Gesetzgebungskompetenz für das gesamte
Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht ein. 1877 wurden die sogenannten ,Reichsjus-
tizgesetze' verabschiedet. Sie traten 1879 in Kraft, darunter die Strafprozessord-
nung, die Zivilprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz. Bismarck
verfolgte solche „Reformen von oben", um vor allem den erstarkenden sozialen
und demokratischen Bewegungen zuvorzukommen. Wichtig war für N. ein
Werk, das er in seiner persönlichen Bibliothek besaß und intensiv durcharbei-
tete, wie die zahlreichen Lesespuren zeigen. Darin ist gerade das für die Mor-
genröthe zentrale Thema der Moral im Hinblick auf Rechtsvorstellungen rele-
vant: Baumanns Handbuch der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie (1879).
Schon vorher war ihm Schopenhauers Auseinandersetzung mit dem Pro-
blem der Strafe bekannt. In der Welt als Wille und Vorstellung II, 4. Buch, Kapi-
tel 47: „Zur Ethik", schreibt Schopenhauer: „Dem Strafrecht sollte, nach
meiner Ansicht, das Princip zum Grunde liegen, daß eigentlich nicht der
Mensch, sondern nur die That gestraft wird, damit sie nicht wiederkehre:
der Verbrecher ist bloß der Stoff, an dem die That gestraft wird; damit dem
Gesetze, welchem zu Folge die Strafe eintritt, die Kraft abzuschrecken bleibe.
Dies bedeutet der Ausdruck: ,Er ist dem Gesetze verfallen'. Nach Kants Darstel-
lung, die auf ein jus talionis hinausläuft, ist es nicht die That, sondern der
Mensch, welcher gestraft wird. - Auch das Pönitentiarsystem will nicht sowohl
die That, als den Menschen strafen, damit er nämlich sich bessere: dadurch
setzt es den eigentlichen Zweck der Strafe, Abschreckung von der That, zurück,
um den sehr problematischen der Besserung zu erreichen. Ueberall aber ist es
 
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