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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0302
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Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 176 287

eine mißliche Sache, durch ein Mittel zwei verschiedene Zwecke erreichen zu
wollen; wie viel mehr, wenn beide, in irgend einem Sinne, entgegengesetzte
sind. Erziehung ist eine Wohlthat, Strafe soll ein Uebel seyn: das Pönitentiarge-
fängniß soll Beides zugleich leisten. - So groß ferner auch der Antheil seyn
mag, den Roheit und Unwissenheit, im Verein mit der äußern Bedrängniß, an
vielen Verbrechen haben; so darf man jene doch nicht als die Hauptursache
derselben betrachten; indem Unzählige in der selben Rohheit und unter ganz
ähnlichen Umständen lebend, keine Verbrechen begehn. Die Hauptsache fällt
also doch auf den persönlichen moralischen Charakter zurück: dieser aber ist,
wie ich in der Preisschrift über die Freiheit des Willens dargethan habe,
schlechterdings unveränderlich. Daher ist eigentliche moralische Besserung
gar nicht möglich; sondern nur Abschreckung von der That" (Schopenhauer
1874, Bd. 3, 683-684).
Den Begriff und die Problematik der Strafe erörterte N.s Freund Paul Ree
in seinem Buch Der Ursprung der moralischen Empfindungen (1877), das N.
ebenfalls in seiner persönlichen Bibliothek hatte. Auf dem Schmutztitel trägt
es folgende Widmung Rees: „Dem Vater dieser Schrift dankbarst deren Mut-
ter". Das Exemplar von N.s Schwester Elisabeth enthält Anmerkungen von N.s
Hand (vgl. NPB 491). Das Problem der Strafe erörtert Ree vor allem im § 4 sei-
nes Werks: „Der Ursprung der Strafe und des Gerechtigkeitsgefühls; über Ab-
schreckung und Vergeltung". Schon in der Einleitung seines Buchs exponiert
Ree den auch für N. im vorliegenden Text leitenden Gedanken, indem er
schreibt: „Jetzt aber [im Gegensatz zu der früher in der Transzendenz veranker-
ten Moral], seit La Marclc und Darwin geschrieben haben, können die morali-
schen Phänomene eben so gut auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden,
wie die physischen: der moralische Mensch steht der intelligiblen Welt nicht
näher, als der physische Mensch. / Diese natürliche Erklärung fusst hauptsäch-
lich auf dem Satz: Die höheren Thiere haben sich durch natürliche Zuchtwahl
aus den niederen, die Menschen sich aus dem Affen entwickelt" (Ree 1877, VI/
VII). Das Problem der Strafe beschäftigte Paul Ree auch weiterhin, und es ist
anzunehmen, dass vieles, was später in seine Schrift Die Entstehung des Gewis-
sens (1885) einging, auch schon in der Entstehungszeit der Morgenröthe in den
Diskussionen der in engem Kontakt stehenden Freunde eine Rolle spielte.
In einer Rezension des letztgenannten Werks von Paul Ree, die im renom-
mierten Literarischen Centralblatt erschien, würdigt Emil Kraepelin (1856-1926)
Rees eingehende Untersuchung „über Ursprung und Wesen der Strafe, na-
mentlich in ihrem Verhältnisse zur Rache" (Kraepelin 1885, 1697) - dieses Ver-
hältnis traktiert auch N. im vorliegenden Text (177, 12-29). Emil Kraepelin war
Professor für Psychiatrie in Dorpat, dann in Heidelberg und schließlich in Mün-
chen, wo er 1917 die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie gründete. N.s
 
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