Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 174-176 285
so inhaltslos bleibt die Beschwörung der „Zukunft" in dem stabreimenden Aus-
ruf: „Oh meine Brüder, ich weihe und weise euch zu einem neuen Adel: ihr
sollt mir Zeuger und Züchter werden und Säemänner der Zukunft" (254, 25-
27). Anders als in Aussagen mit einer vergangenheitsorientierten Tendenz zur
herkömmlichen Art der Aristokratie (vgl. NK Μ 199) versucht N. anschließend
diese Forderung nach adliger „Zukunft" mit vagen Hinweisen auf „Ehre", aber
mit ausdrücklicher Zurückweisung eines lediglich an der Vergangenheit orien-
tierten Adels zu unterstreichen: „Nicht, woher ihr kommt, mache euch fürder-
hin eure Ehre, sondern wohin ihr geht" (KSA 4, 255, 1 f.). Doch bleibt es bei der
Ablehnung rückwärtsgewandter Adelsformen, denn er erinnert hauptsächlich
an die Obsoletheit des höfischen Adels, des im Dienst der Kirche stehenden
Adels und des antiquierten Rittertums, das noch manche Romantiker hatten
aufleben lassen (255, 4-19). Indem er ausruft „nicht zurück soll euer Adel
schauen" (255, 20), schaut er doch selbst nur zurück in seinen Evokationen
ehemaliger Adelsformen, ohne eine „Zukunfts"-Vision zu entwerfen. Zur allge-
meineren Problematik von N.s Zukunfts-Postulaten vgl. S. 62-64.
Ganz anders als die Absage an das Zurückschauen im Zarathustra sind die
sich entschieden auf die „Vorfahren" berufenden Meinungen N.s in Jenseits von
Gut und Böse, wo er für seine Stellung als Philosoph quasi-adelige, genealo-
gisch verbürgte und ererbte Vorzüge phantasiert: „Für jede hohe Welt muss
man geboren sein; deutlicher gesagt, man muss für sie gezüchtet sein: ein
Recht auf Philosophie - das Wort im grossen Sinne genommen - hat man nur
Dank seiner Abkunft, die Vorfahren, das ,Geblüt' entscheidet auch hier. Viele
Geschlechter müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben",
und dieses „Geblüt" des Philosophen, das N. sich selbst zuschreibt (KSA 6,
268, 2f.), drückt sich in der „Hoheit herrschender Blicke" und in der „Kunst
des Befehlens" aus (148, 27-149, 7). Die Schrift Jenseits von Gut und Böse weitet
im ,Neunten Hauptstück: was ist vornehm?' das Thema stark aus (KSA 5, 205-
240). N. radikalisiert es auch, um „Aristokratie" strikt aus dem ,Willen zur
Macht' zu definieren, der „das Opfer einer Unzahl Menschen" sowie die Sklave-
rei rechtfertigt (JGB 258, KSA 5, 206, 24-31). Ausdrücklich lässt N. „Ausbeu-
tung" als naturalistisch und essentialistisch interpretierte Notwendigkeit er-
scheinen: „Die ,Ausbeutung' gehört nicht einer verderbten oder unvollkomm-
nen und primitiven Gesellschaft an: sie gehört in's Wesen des Lebendigen,
als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur
Macht, der eben der Wille des Lebens ist" (JGB 259, KSA 5, 208, 11-16).
202
176, 12 Zur Pflege der Gesundheit.] Der in diesem Text mit dem Hinweis
auf die „Physiologie" begründete Vorurteilsverdacht gegen alles ,Moralische'
so inhaltslos bleibt die Beschwörung der „Zukunft" in dem stabreimenden Aus-
ruf: „Oh meine Brüder, ich weihe und weise euch zu einem neuen Adel: ihr
sollt mir Zeuger und Züchter werden und Säemänner der Zukunft" (254, 25-
27). Anders als in Aussagen mit einer vergangenheitsorientierten Tendenz zur
herkömmlichen Art der Aristokratie (vgl. NK Μ 199) versucht N. anschließend
diese Forderung nach adliger „Zukunft" mit vagen Hinweisen auf „Ehre", aber
mit ausdrücklicher Zurückweisung eines lediglich an der Vergangenheit orien-
tierten Adels zu unterstreichen: „Nicht, woher ihr kommt, mache euch fürder-
hin eure Ehre, sondern wohin ihr geht" (KSA 4, 255, 1 f.). Doch bleibt es bei der
Ablehnung rückwärtsgewandter Adelsformen, denn er erinnert hauptsächlich
an die Obsoletheit des höfischen Adels, des im Dienst der Kirche stehenden
Adels und des antiquierten Rittertums, das noch manche Romantiker hatten
aufleben lassen (255, 4-19). Indem er ausruft „nicht zurück soll euer Adel
schauen" (255, 20), schaut er doch selbst nur zurück in seinen Evokationen
ehemaliger Adelsformen, ohne eine „Zukunfts"-Vision zu entwerfen. Zur allge-
meineren Problematik von N.s Zukunfts-Postulaten vgl. S. 62-64.
Ganz anders als die Absage an das Zurückschauen im Zarathustra sind die
sich entschieden auf die „Vorfahren" berufenden Meinungen N.s in Jenseits von
Gut und Böse, wo er für seine Stellung als Philosoph quasi-adelige, genealo-
gisch verbürgte und ererbte Vorzüge phantasiert: „Für jede hohe Welt muss
man geboren sein; deutlicher gesagt, man muss für sie gezüchtet sein: ein
Recht auf Philosophie - das Wort im grossen Sinne genommen - hat man nur
Dank seiner Abkunft, die Vorfahren, das ,Geblüt' entscheidet auch hier. Viele
Geschlechter müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben",
und dieses „Geblüt" des Philosophen, das N. sich selbst zuschreibt (KSA 6,
268, 2f.), drückt sich in der „Hoheit herrschender Blicke" und in der „Kunst
des Befehlens" aus (148, 27-149, 7). Die Schrift Jenseits von Gut und Böse weitet
im ,Neunten Hauptstück: was ist vornehm?' das Thema stark aus (KSA 5, 205-
240). N. radikalisiert es auch, um „Aristokratie" strikt aus dem ,Willen zur
Macht' zu definieren, der „das Opfer einer Unzahl Menschen" sowie die Sklave-
rei rechtfertigt (JGB 258, KSA 5, 206, 24-31). Ausdrücklich lässt N. „Ausbeu-
tung" als naturalistisch und essentialistisch interpretierte Notwendigkeit er-
scheinen: „Die ,Ausbeutung' gehört nicht einer verderbten oder unvollkomm-
nen und primitiven Gesellschaft an: sie gehört in's Wesen des Lebendigen,
als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur
Macht, der eben der Wille des Lebens ist" (JGB 259, KSA 5, 208, 11-16).
202
176, 12 Zur Pflege der Gesundheit.] Der in diesem Text mit dem Hinweis
auf die „Physiologie" begründete Vorurteilsverdacht gegen alles ,Moralische'