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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0330
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Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 211-212 315

präludiert den Text Μ 547, wo er in der Rolle des von der Leidenschaft des
Denkens und Erkennens Ergriffenen zu folgendem Schluss kommt: „Daraus
ergiebt sich, dass im Grossen und Ganzen die Wissenschaft bisher durch die
moralische Beschränktheit ihrer Jünger zurückgeblieben ist und dass
sie mit einer höheren und grossmüthigeren Grundempfindung fürderhin
getrieben werden muss. ,Was liegt an mir!' - steht über der Thür des künftigen
Denkers" (318, 10-15). Diese Art von ,Großmut', die sich am antiken Ideal der
„magnanimitas" orientiert, hatte N. schon in seiner Frühschrift Vom Nutzen
und Nachtheil der Historie für das Leben mit dem Horaz-Zitat „animae magnae
prodigus" beschworen (UB II HL 9, KSA 1, 319, 18-20). Vgl. besonders auch M
459: „Die Grossmüthigkeit des Denkers".
Für die Formel „Was liegt an mir!" hatte N. eine besondere Vorliebe. Er
wiederholt sie immer wieder, auch in seinen nachgelassenen Notaten aus der
Zeit der Morgenröthe. Dort heißt es: „,Was liegt an mir!' ist der Ausdruck der
wahren Leidenschaft, es ist der äußerste Grad, etwas außer sich zu se-
hen" (NL 1880, 7[45], KSA 9, 326). In einem anderen Notat aus dem Nachlass
heißt es: „Dieser Gang ist so gefährlich! Ich darf mich selber nicht anrufen, wie
ein Nachtwandler, der auf den Dächern lustwandelt, ein heiliges Anrecht hat,
nicht bei Namen genannt zu werden. ,Was liegt an mir!' dies ist die einzige
tröstende Stimme, die ich hören will" (NL 1880, 7[126], KSA 9, 344). Diese For-
mel kontrastiert scharf mit den Selbstüberhebungen und Selbstüberschätzun-
gen sowie der Ego-Fixierung überhaupt im Werk N.s - und signalisiert dessen
keineswegs gefestigtes, stabiles, vielmehr ambivalent-widersprüchliches
Selbstbild.

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212, 25 Die Feststimmung.] Die in der Überschrift exponierte „Feststim-
mung" resultiert, wie aus dem Text hervorgeht, aus einer Entspannungsphase,
die sich gelegentlich in unserer „jetzigen gehetzten, machtdürstigen Gesell-
schaft Europa's und Amerika's" (213, 9 f.) einstelle, bevor sich dann erneut der
Drang nach Macht Bahn bricht. Das psychologische Kompensationsschema,
das N. in vielen Texten der Morgenröthe anwendet, bringt er hier auf den Nen-
ner „Glück des Gegensatzes" (213, 6 f.). Am deutlichsten zeigt sich die-
ser Gegensatz in der Opposition von „Macht" und „Ohnmacht" (213, 10 f.).
In umgekehrtem Sinn und ebenfalls nach dem psychologischen Kompensati-
onsschema leitet N. in M 23 das Bedürfnis nach einem „Gefühl der Macht" aus
dem Gefühl der „Ohnmacht" her: „Aber weil das Gefühl der Ohnmacht und
der Furcht so stark und so lange fast fortwährend in Reizung [sic!] war, hat
sich das Gefühl der Macht in solcher Feinheit entwickelt".
 
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