156 Die fröhliche Wissenschaft
alles zu sehen bekommt." (Gsell 2001, 34) Gsell kommt ausdrücklich auf die
Baubo-Stelle aus der Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft zu sprechen und kons-
tatiert, dass aus Baubos Geste des „Alles-Zeigens", dem sog. Anasyrma, in N.s
Text ein „Nichts-zu-Sehen" wird, was ein allgemeineres Kennzeichen „von mo-
dernen Rezeptionen der Baubo-Figur" darstelle, während in den „beiden Über-
lieferungs-Texte[n]" der Kirchenväter Clemens und Arnobius „Baubo alles zeigt"
(Gsell 2001, 15). Baubo fungiere so bei N. als Allegorie einer Wahrheit, deren
„Gründe" verborgen bleiben, da das, was sie zeigt, letztlich immer nur „Oberflä-
che" ist. Laut Gsell steht Baubo in der Vorrede damit für „eine Kritik der Meta-
physik im Sinne eines Phantasmas der Vollständigkeit" eines absoluten Wis-
sens; „das weibliche Genitale wird hier zum Symbol der nicht zu habenden
Vollständigkeit" (Gsell 2001, 44) jener Wahrheit, welche die ,unanständigen',
,schamlosen' Philosophen mit „schlechte[m] Geschmack" (352, 5) suchen.
Gleichwohl bleibt die hypothetische, fragende Identifizierung der weibli-
chen Wahrheit als Baubo innerhalb der Vorrede vieldeutig. Eine andere, von
der orphischen bzw. patristischen Quelle absehende Interpretationsmöglich-
keit, die sich ebenfalls sinnvoll auf den Text beziehen ließe, besteht darin,
Baubo als Allegorie einer schrecklichen, monströsen Wahrheit zu verstehen,
deren Anblick unerträglich ist. Denn Baubo wurde zu N.s Zeit unter anderem
auch mit Gorgo Medusa gleichgesetzt, die ihren Betrachter erstarren lässt.
So heißt es in der Abhandlung Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube
der Griechen von N.s Freund Erwin Rohde, Baubo sei einer der „Namen vieler
weiblicher Höllengeister", die „im Grunde nur wechselnde Verwandlungen"
desselben „gespenstischen Gräuels" seien. „Baubo, Gorgo, Mormo" und weite-
re ,Spukgestalten' bezeichnet Rohde explizit als „identisch" (Rohde 1894, 370-
372). Von Gorgo Medusa aus lässt sich überdies der Bogen zurück zum ver-
schleierten Bild der Isis schlagen. In Karl Bleibtreus Lyrischem Tagebuch, das
N. in seiner persönlichen Bibliothek hatte, findet sich ein Gedicht mit dem Titel
Sphinx, in dem es heißt: „Der Wahrheit Säisschleier / Zerriß vor ihrem [der
,Sphinxe'] Blick, / Versteint von der Meduse, / Dem großen Weltgeschick."
(Bleibtreu 1885, 43; vgl. NK 6/2, S. 787) Auch die Einheit von Baubo und Gorgo
Medusa sollte man bei der Interpretation von Baubos Auftritt bei N. im Hinter-
kopf behalten. Die Mehrdeutigkeit ist konstitutiv für den Text: Ob sich hinter
den Schleiern der Wahrheit gar nichts oder aber Schreckliches verbirgt, bleibt
unentschieden; vielleicht besteht das Schreckliche ja gerade darin, dass ,nichts
dahinter' ist.
Heidegger notiert 1937 angesichts der zu kommentierenden Stelle: „Vgl.
βαυβάω. Der Wahrheitsbegriff der Griechen V, S. 11 (1886) [gemeint ist wohl
Nietzsche 1887, XI (f.)]. Die ganze Vorrede und n. 374 [= FW 374]. Wahrheit als
Weib, Einschläfern, Einfingieren!" (HGA 87, 115) Und weiter: „Die Einheit von
alles zu sehen bekommt." (Gsell 2001, 34) Gsell kommt ausdrücklich auf die
Baubo-Stelle aus der Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft zu sprechen und kons-
tatiert, dass aus Baubos Geste des „Alles-Zeigens", dem sog. Anasyrma, in N.s
Text ein „Nichts-zu-Sehen" wird, was ein allgemeineres Kennzeichen „von mo-
dernen Rezeptionen der Baubo-Figur" darstelle, während in den „beiden Über-
lieferungs-Texte[n]" der Kirchenväter Clemens und Arnobius „Baubo alles zeigt"
(Gsell 2001, 15). Baubo fungiere so bei N. als Allegorie einer Wahrheit, deren
„Gründe" verborgen bleiben, da das, was sie zeigt, letztlich immer nur „Oberflä-
che" ist. Laut Gsell steht Baubo in der Vorrede damit für „eine Kritik der Meta-
physik im Sinne eines Phantasmas der Vollständigkeit" eines absoluten Wis-
sens; „das weibliche Genitale wird hier zum Symbol der nicht zu habenden
Vollständigkeit" (Gsell 2001, 44) jener Wahrheit, welche die ,unanständigen',
,schamlosen' Philosophen mit „schlechte[m] Geschmack" (352, 5) suchen.
Gleichwohl bleibt die hypothetische, fragende Identifizierung der weibli-
chen Wahrheit als Baubo innerhalb der Vorrede vieldeutig. Eine andere, von
der orphischen bzw. patristischen Quelle absehende Interpretationsmöglich-
keit, die sich ebenfalls sinnvoll auf den Text beziehen ließe, besteht darin,
Baubo als Allegorie einer schrecklichen, monströsen Wahrheit zu verstehen,
deren Anblick unerträglich ist. Denn Baubo wurde zu N.s Zeit unter anderem
auch mit Gorgo Medusa gleichgesetzt, die ihren Betrachter erstarren lässt.
So heißt es in der Abhandlung Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube
der Griechen von N.s Freund Erwin Rohde, Baubo sei einer der „Namen vieler
weiblicher Höllengeister", die „im Grunde nur wechselnde Verwandlungen"
desselben „gespenstischen Gräuels" seien. „Baubo, Gorgo, Mormo" und weite-
re ,Spukgestalten' bezeichnet Rohde explizit als „identisch" (Rohde 1894, 370-
372). Von Gorgo Medusa aus lässt sich überdies der Bogen zurück zum ver-
schleierten Bild der Isis schlagen. In Karl Bleibtreus Lyrischem Tagebuch, das
N. in seiner persönlichen Bibliothek hatte, findet sich ein Gedicht mit dem Titel
Sphinx, in dem es heißt: „Der Wahrheit Säisschleier / Zerriß vor ihrem [der
,Sphinxe'] Blick, / Versteint von der Meduse, / Dem großen Weltgeschick."
(Bleibtreu 1885, 43; vgl. NK 6/2, S. 787) Auch die Einheit von Baubo und Gorgo
Medusa sollte man bei der Interpretation von Baubos Auftritt bei N. im Hinter-
kopf behalten. Die Mehrdeutigkeit ist konstitutiv für den Text: Ob sich hinter
den Schleiern der Wahrheit gar nichts oder aber Schreckliches verbirgt, bleibt
unentschieden; vielleicht besteht das Schreckliche ja gerade darin, dass ,nichts
dahinter' ist.
Heidegger notiert 1937 angesichts der zu kommentierenden Stelle: „Vgl.
βαυβάω. Der Wahrheitsbegriff der Griechen V, S. 11 (1886) [gemeint ist wohl
Nietzsche 1887, XI (f.)]. Die ganze Vorrede und n. 374 [= FW 374]. Wahrheit als
Weib, Einschläfern, Einfingieren!" (HGA 87, 115) Und weiter: „Die Einheit von