Stellenkommentar FW 57, KSA 3, S. 421 523
nicht auch ihr in eurem entschleiertsten Zustande noch höchst leidenschaftliche
und dunkle Wesen, verglichen mit den Fischen, und immer noch einem verliebten
Künstler allzu ähnlich?] Zum Sais-Mythos, zu seinen Quellen und dem damit
verschlungenen Schleier-Motiv vgl. NK 351, 34-352, 5. Während im vierten Ab-
schnitt der später verfassten Vorrede allerdings distanzierend (zugleich rück-
blickend identifikatorisch) von jenen die Rede ist, welche verhüllte Standbilder
entschleiern wollen, werden die ,Wirklichkeitsenthüller' hier ihrerseits als „Bil-
der von Sais" angesprochen. Vgl. aber wiederum FW Vorrede 3, 350, 8-14, wo
der „grosse Schmerz" als die Instanz erscheint, die „uns Philosophen" dazu
„zwingt", „alles [...] Verschleiernde [...] von uns zu thun". Das Sprecher-Ich in
der Vorrede nimmt also zwar in Anspruch, sich selbst in einem „entschleierts-
ten Zustande" zu befinden bzw. befunden zu haben, dies jedoch durchaus im
Sinne des Einwands von FW 57 als ein „höchst leidenschaftliche[s]" Individu-
um. Dass auch der Sprecher im hier zu kommentierenden Abschnitt ein solches
ist, legt schon seine hymnische Exclamatio „oh ihr geliebten Bilder von Sais"
nahe: Indem er die vermeintlich nüchternen Realisten dergestalt apostrophiert,
gesteht er nicht nur seine Liebe zu ihnen, sondern identifiziert sich zugleich
mit ihnen, da sie ja selbst „einem verliebten Künstler" - und damit dem Spre-
cher selbst - „allzu ähnlich" seien. Das Motiv der (Künstler-)Liebe, das folglich
den Sprechenden und die Angesprochenen verbindet, wird nicht nur im Fort-
gang des Abschnitts durch die Thematisierung der ,realistischen' „Liebe zur
,Wirklichkeit'" (421, 18) weitergeführt, sondern auch noch in anderen Abschnit-
ten des Zweiten Buchs, so gleich zentral im übernächsten Abschnitt FW 59.
Vivarelli 2015, 72 hat darauf hingewiesen, dass sich die in FW 57 aufge-
spannte „Antithese" von trunkener Leidenschaft und nüchternem Realismus
im Hinblick auf das Enthüllungs-Motiv bereits in GT 15 „vorgebildet" finde, wo
es heißt: „Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer
nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der
Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoretische
Mensch an der abgeworfenen Hülle" (KSA 1, 98, 15-19). Der entscheidende Un-
terschied besteht jedoch darin, dass FW 57 die entsprechende „Antithese" nur
aufstellt, um sie zu relativieren. Die nüchternen Realisten haben mit den (lie-
bes)trunkenen Künstlern viel mehr gemein, als sie denken. Auch der abgren-
zende Vergleich „mit den Fischen", die traditionell für ,Kaltblütigkeit' stehen,
soll dies verdeutlichen; vgl. Wander 1867-1880, 1, 1040, der die phraseologi-
sche Wendung „mit Fischblut" so erläutert: „Mit kaltem Blute, ruhiger Ueberle-
gung."
421, 14-20 Immer noch tragt ihr die Schätzungen der Dinge mit euch herum,
welche in den Leidenschaften und Verliebtheiten früherer Jahrhunderte ihren
nicht auch ihr in eurem entschleiertsten Zustande noch höchst leidenschaftliche
und dunkle Wesen, verglichen mit den Fischen, und immer noch einem verliebten
Künstler allzu ähnlich?] Zum Sais-Mythos, zu seinen Quellen und dem damit
verschlungenen Schleier-Motiv vgl. NK 351, 34-352, 5. Während im vierten Ab-
schnitt der später verfassten Vorrede allerdings distanzierend (zugleich rück-
blickend identifikatorisch) von jenen die Rede ist, welche verhüllte Standbilder
entschleiern wollen, werden die ,Wirklichkeitsenthüller' hier ihrerseits als „Bil-
der von Sais" angesprochen. Vgl. aber wiederum FW Vorrede 3, 350, 8-14, wo
der „grosse Schmerz" als die Instanz erscheint, die „uns Philosophen" dazu
„zwingt", „alles [...] Verschleiernde [...] von uns zu thun". Das Sprecher-Ich in
der Vorrede nimmt also zwar in Anspruch, sich selbst in einem „entschleierts-
ten Zustande" zu befinden bzw. befunden zu haben, dies jedoch durchaus im
Sinne des Einwands von FW 57 als ein „höchst leidenschaftliche[s]" Individu-
um. Dass auch der Sprecher im hier zu kommentierenden Abschnitt ein solches
ist, legt schon seine hymnische Exclamatio „oh ihr geliebten Bilder von Sais"
nahe: Indem er die vermeintlich nüchternen Realisten dergestalt apostrophiert,
gesteht er nicht nur seine Liebe zu ihnen, sondern identifiziert sich zugleich
mit ihnen, da sie ja selbst „einem verliebten Künstler" - und damit dem Spre-
cher selbst - „allzu ähnlich" seien. Das Motiv der (Künstler-)Liebe, das folglich
den Sprechenden und die Angesprochenen verbindet, wird nicht nur im Fort-
gang des Abschnitts durch die Thematisierung der ,realistischen' „Liebe zur
,Wirklichkeit'" (421, 18) weitergeführt, sondern auch noch in anderen Abschnit-
ten des Zweiten Buchs, so gleich zentral im übernächsten Abschnitt FW 59.
Vivarelli 2015, 72 hat darauf hingewiesen, dass sich die in FW 57 aufge-
spannte „Antithese" von trunkener Leidenschaft und nüchternem Realismus
im Hinblick auf das Enthüllungs-Motiv bereits in GT 15 „vorgebildet" finde, wo
es heißt: „Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer
nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der
Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoretische
Mensch an der abgeworfenen Hülle" (KSA 1, 98, 15-19). Der entscheidende Un-
terschied besteht jedoch darin, dass FW 57 die entsprechende „Antithese" nur
aufstellt, um sie zu relativieren. Die nüchternen Realisten haben mit den (lie-
bes)trunkenen Künstlern viel mehr gemein, als sie denken. Auch der abgren-
zende Vergleich „mit den Fischen", die traditionell für ,Kaltblütigkeit' stehen,
soll dies verdeutlichen; vgl. Wander 1867-1880, 1, 1040, der die phraseologi-
sche Wendung „mit Fischblut" so erläutert: „Mit kaltem Blute, ruhiger Ueberle-
gung."
421, 14-20 Immer noch tragt ihr die Schätzungen der Dinge mit euch herum,
welche in den Leidenschaften und Verliebtheiten früherer Jahrhunderte ihren