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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0554
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Stellenkommentar FW 58-59, KSA 3, S. 422 531

Leib, der sich zu schämen scheint! Das Gewand an den Theilen, wo sein
Wesen nach außen tritt: oder die Hand vor den Mund halten beim Speichelaus-
werfen. Also: es giebt Ekel-erregendes; je unwissender der Mensch über den
Organismus ist, um so mehr fällt ihm rohes Fleisch Verwesung Gestank Maden
zusammen ein. Der Mensch, soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft - er
thut alles, um nicht daran zu denken. - Die Lust, die ersichtlich mit
diesem innerlichen Menschen zusammenhängt, gilt als niedriger - Nachwir-
kung des aesthetischen Urtheils. Die Idealisten der Liebe sind Schwärmer der
schönen Formen, sie wollen sich täuschen und sind oft empört bei der Vor-
stellung von Coitus und Samen. - Alles Peinliche Quälende Überheftige hat
der Mensch diesem innerlichen Leibe zugeschrieben: um so höher hob er das
Sehen Hören die Gestalt das Denken. Das Ekelhafte sollte die Quelle des
Unglücks sein! - Wir lernen den Ekel um! / Zweiter Ursprung der
Unterscheidung von höher und niedriger. Alles Furchteinflößende als
das Mächtigere gilt als höher; alles Andere als niedriger oder gar verächtlich.
Als Höchstes - Furcht einflößen und doch wohlthun und wohlwollen!" (NL
1881, 11[53], KSA 9, 460 f.) Eine weitere Vorarbeit lautet kürzer: „Der Mensch
unter der Haut ist den M[enschen] ein Gegenstand des Ekels; daran wollen sie
nicht denken. Von ,Verdauung' zu hören ist manchen Frauen unangenehm.
Dies Gefühl stemmt sich gegen die Einverleibung des Wissens. Die Oberfläche,
Gestalt und Haut anerkennen - ist menschlich." (Μ III 1, 108) Vgl. hierzu Volz
1995, 307. Schon ein Notat von 1879 stellte ähnlich fest: „Sie haben das Gebiet
der pudenda so ausgedehnt, daß ein Gespräch über Verdauung, ja über Zahn-
bürsten schon für unzart gilt: und die Feineren denken folglich auch nicht
über solche Dinge nach." (NL 1879, 42[29], KSA 8, 601, 1-4) Ein Entwurf zum
Anfang von FW 59 (422, 29-423, 13) steht in N V 7, 192. Dem Wortlaut der Druck-
fassung noch näher kommt die ausführlichere ,Vorstufe' in M III 5, 8. Die titel-
gleiche ,Reinschrift' zu FW 59 mit etlichen Korrekturen und Varianten findet
sich in M III 6, 170.
Zur Interpretation von FW 59 (z. T. im Zusammenhang mit den genannten
und weiteren thematisch verwandten Nachlass-Notaten) vgl. neben den in den
folgenden Stellenkommentaren zitierten Titeln auch Derrida 1986, 134, Higgins
2000, 79-81, Marton 2010, 284-287 sowie die umfangreiche Einzelinterpreta-
tion von Benne 2013b, der in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht - leider ohne
genauere Nachweise - schreibt, dass speziell der vorliegende Abschnitt „ganze
Generationen von Autoren und Künstlern elektrisierte, die Nietzsche verfallen
waren [...] bis zu Thomas Manns Felix Krull" (ebd., 238; vermutlich meint Benne
die Stelle in Mann 2001 ff., 12/1, 412). Programmatisches Ziel von N.s Text sei
es, „gegen die Interpretation des Ressentiments eine Gegeninterpretation zu
setzen, die das Natürliche wieder lebbar und erlebbar macht", um damit „eine
 
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