Stellenkommentar FW 58-59, KSA 3, S. 422 531
Leib, der sich zu schämen scheint! Das Gewand an den Theilen, wo sein
Wesen nach außen tritt: oder die Hand vor den Mund halten beim Speichelaus-
werfen. Also: es giebt Ekel-erregendes; je unwissender der Mensch über den
Organismus ist, um so mehr fällt ihm rohes Fleisch Verwesung Gestank Maden
zusammen ein. Der Mensch, soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft - er
thut alles, um nicht daran zu denken. - Die Lust, die ersichtlich mit
diesem innerlichen Menschen zusammenhängt, gilt als niedriger - Nachwir-
kung des aesthetischen Urtheils. Die Idealisten der Liebe sind Schwärmer der
schönen Formen, sie wollen sich täuschen und sind oft empört bei der Vor-
stellung von Coitus und Samen. - Alles Peinliche Quälende Überheftige hat
der Mensch diesem innerlichen Leibe zugeschrieben: um so höher hob er das
Sehen Hören die Gestalt das Denken. Das Ekelhafte sollte die Quelle des
Unglücks sein! - Wir lernen den Ekel um! / Zweiter Ursprung der
Unterscheidung von höher und niedriger. Alles Furchteinflößende als
das Mächtigere gilt als höher; alles Andere als niedriger oder gar verächtlich.
Als Höchstes - Furcht einflößen und doch wohlthun und wohlwollen!" (NL
1881, 11[53], KSA 9, 460 f.) Eine weitere Vorarbeit lautet kürzer: „Der Mensch
unter der Haut ist den M[enschen] ein Gegenstand des Ekels; daran wollen sie
nicht denken. Von ,Verdauung' zu hören ist manchen Frauen unangenehm.
Dies Gefühl stemmt sich gegen die Einverleibung des Wissens. Die Oberfläche,
Gestalt und Haut anerkennen - ist menschlich." (Μ III 1, 108) Vgl. hierzu Volz
1995, 307. Schon ein Notat von 1879 stellte ähnlich fest: „Sie haben das Gebiet
der pudenda so ausgedehnt, daß ein Gespräch über Verdauung, ja über Zahn-
bürsten schon für unzart gilt: und die Feineren denken folglich auch nicht
über solche Dinge nach." (NL 1879, 42[29], KSA 8, 601, 1-4) Ein Entwurf zum
Anfang von FW 59 (422, 29-423, 13) steht in N V 7, 192. Dem Wortlaut der Druck-
fassung noch näher kommt die ausführlichere ,Vorstufe' in M III 5, 8. Die titel-
gleiche ,Reinschrift' zu FW 59 mit etlichen Korrekturen und Varianten findet
sich in M III 6, 170.
Zur Interpretation von FW 59 (z. T. im Zusammenhang mit den genannten
und weiteren thematisch verwandten Nachlass-Notaten) vgl. neben den in den
folgenden Stellenkommentaren zitierten Titeln auch Derrida 1986, 134, Higgins
2000, 79-81, Marton 2010, 284-287 sowie die umfangreiche Einzelinterpreta-
tion von Benne 2013b, der in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht - leider ohne
genauere Nachweise - schreibt, dass speziell der vorliegende Abschnitt „ganze
Generationen von Autoren und Künstlern elektrisierte, die Nietzsche verfallen
waren [...] bis zu Thomas Manns Felix Krull" (ebd., 238; vermutlich meint Benne
die Stelle in Mann 2001 ff., 12/1, 412). Programmatisches Ziel von N.s Text sei
es, „gegen die Interpretation des Ressentiments eine Gegeninterpretation zu
setzen, die das Natürliche wieder lebbar und erlebbar macht", um damit „eine
Leib, der sich zu schämen scheint! Das Gewand an den Theilen, wo sein
Wesen nach außen tritt: oder die Hand vor den Mund halten beim Speichelaus-
werfen. Also: es giebt Ekel-erregendes; je unwissender der Mensch über den
Organismus ist, um so mehr fällt ihm rohes Fleisch Verwesung Gestank Maden
zusammen ein. Der Mensch, soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft - er
thut alles, um nicht daran zu denken. - Die Lust, die ersichtlich mit
diesem innerlichen Menschen zusammenhängt, gilt als niedriger - Nachwir-
kung des aesthetischen Urtheils. Die Idealisten der Liebe sind Schwärmer der
schönen Formen, sie wollen sich täuschen und sind oft empört bei der Vor-
stellung von Coitus und Samen. - Alles Peinliche Quälende Überheftige hat
der Mensch diesem innerlichen Leibe zugeschrieben: um so höher hob er das
Sehen Hören die Gestalt das Denken. Das Ekelhafte sollte die Quelle des
Unglücks sein! - Wir lernen den Ekel um! / Zweiter Ursprung der
Unterscheidung von höher und niedriger. Alles Furchteinflößende als
das Mächtigere gilt als höher; alles Andere als niedriger oder gar verächtlich.
Als Höchstes - Furcht einflößen und doch wohlthun und wohlwollen!" (NL
1881, 11[53], KSA 9, 460 f.) Eine weitere Vorarbeit lautet kürzer: „Der Mensch
unter der Haut ist den M[enschen] ein Gegenstand des Ekels; daran wollen sie
nicht denken. Von ,Verdauung' zu hören ist manchen Frauen unangenehm.
Dies Gefühl stemmt sich gegen die Einverleibung des Wissens. Die Oberfläche,
Gestalt und Haut anerkennen - ist menschlich." (Μ III 1, 108) Vgl. hierzu Volz
1995, 307. Schon ein Notat von 1879 stellte ähnlich fest: „Sie haben das Gebiet
der pudenda so ausgedehnt, daß ein Gespräch über Verdauung, ja über Zahn-
bürsten schon für unzart gilt: und die Feineren denken folglich auch nicht
über solche Dinge nach." (NL 1879, 42[29], KSA 8, 601, 1-4) Ein Entwurf zum
Anfang von FW 59 (422, 29-423, 13) steht in N V 7, 192. Dem Wortlaut der Druck-
fassung noch näher kommt die ausführlichere ,Vorstufe' in M III 5, 8. Die titel-
gleiche ,Reinschrift' zu FW 59 mit etlichen Korrekturen und Varianten findet
sich in M III 6, 170.
Zur Interpretation von FW 59 (z. T. im Zusammenhang mit den genannten
und weiteren thematisch verwandten Nachlass-Notaten) vgl. neben den in den
folgenden Stellenkommentaren zitierten Titeln auch Derrida 1986, 134, Higgins
2000, 79-81, Marton 2010, 284-287 sowie die umfangreiche Einzelinterpreta-
tion von Benne 2013b, der in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht - leider ohne
genauere Nachweise - schreibt, dass speziell der vorliegende Abschnitt „ganze
Generationen von Autoren und Künstlern elektrisierte, die Nietzsche verfallen
waren [...] bis zu Thomas Manns Felix Krull" (ebd., 238; vermutlich meint Benne
die Stelle in Mann 2001 ff., 12/1, 412). Programmatisches Ziel von N.s Text sei
es, „gegen die Interpretation des Ressentiments eine Gegeninterpretation zu
setzen, die das Natürliche wieder lebbar und erlebbar macht", um damit „eine