Metadaten

Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 2. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.73067#0552
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar FW 382-383, KSA 3, S. 637 1593

,Bücher' bildet. Scheint dabei die untergeordnete Rolle der Gedichtzyklen
schon durch die generischen Untertitel klar angezeigt zu werden - der „An-
hang" gehört dieser Suggestion zufolge als werkinterner Paratext genauso we-
nig zum Haupt- oder Basistext der fünf ,Bücher' wie das „Vorspiel" -, so wird
diese scheinbar klare Grenze zwischen Basis- und Paratext im Fall der ,ange-
hängten' „Lieder des Prinzen Vogelfrei" durch den letzten Abschnitt FW 383
jedoch weniger gezogen als vielmehr überschritten. Denn dieser „Epilog"
überschriebene Text (vgl. hierzu Weiß 2015, 170) leitet wie gesagt zu FW An-
hang über und fungiert insofern zugleich als dessen „Prolog" (Detering 2015,
154). Er antwortet in Form einer performativen Autor-Inszenierung schließlich
mit dem „koboldigste[n] Lachen" der „Geister meines Buches" (637, 22), die
zum Abschluss noch „ein Lied, ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, so
flügge" (637, 28 f.) hören wollen, damit die Schrift nicht gar so düster ende, auf
den „grosse[n] Ernst" (637, 13) des vorletzten Abschnitts FW 382. Dieser
mündete, auf den Schluss des Vierten Buchs anspielend, in den Worten: „die
Tragödie beginnt ..." (637, 15). Das Lachen der Buchgeister sorgt damit für
finale Entspannung, denn das auktoriale Ich ist gerne bereit, ihrem Wunsch
nach „freudenvollere[n]" (638, 4) Tönen stattzugeben, der den Text des Bari-
tonsolos zitiert, mit dem der Hauptteil des Vierten Satzes von Beethovens
9. Sinfonie, die Ode an die Freude, beginnt.
Aus dieser ,basistextuellen' Perspektive ergibt sich freilich nicht nur eine
personale Identität des in FW Anhang singenden „Prinzen Vogelfrei" und des
Autor-Ich der vorangehenden Abschnitte, sondern überdies ein merkwürdig
unklarer Adressatenbezug, der offenlässt, ob der folgende ,Gesang' für „mei-
net ] Leser[]" (637, 19) oder aber für „die Geister meines Buches" (637, 22)
bestimmt ist. Fast klingt es so, als seien es letztere, die zu den folgenden „Lie-
der[n]" „tanzen" sollen (638, 12 f.), auch wenn sie wahrscheinlich „den Sän-
ger missversteh[en]" (638, 9 f.). Von Lesern ist am Ende von FW 383 jedenfalls
nicht mehr ausdrücklich die Rede, wenn das sprechende Ich „meine ungedul-
digen Freunde" (638, 5) apostrophiert. Dass es aber jedenfalls ,die Geister des
Buchs' sind, die sich die folgenden „Lieder" wünschen, ist im Hinblick auf den
Stellenwert des ,Anhangs' innerhalb des Textganzen bedeutsam. Denn aus
Sicht der Buchgeister, die in der Logik der Fiktion „die Werkherrschaft über-
nommen" haben, ist - wie Heinrich Detering treffend bemerkt hat - „alles,
was jetzt kommt, nicht Appendix, sondern Ziel des Buches", an dem „die auf
der Titelseite versprochene gaya scienza [...] erst [...] verwirklicht" wird (Dete-
ring 2015, 156). Damit erweist sich indes die Bezeichnung als „Anhang" im
Obertitel der „Lieder des Prinzen Vogelfrei" als vordergründig, ja irreführend.
Es handelt sich gerade nicht um einen bloß angehängten lyrischen Zyklus, der
im Grunde, so wie der separat publizierte ,Urtext' Idyllen aus Messina (IM), für
sich steht, sondern um ein konzeptionell-poetologisch mit dem Rest des Werks
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften