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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0210
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190 Jenseits von Gut und Böse

„sehr gut“! - sind dokumentiert ebd., 287.) JGB 19 übersetzt dieses Konzept
einer aus der Überwindung von Widerständen kommenden, handlungsbeglei-
tenden Lust, die als solche nicht ursprünglich direkt intendiert ist, auf die
Funktionsweise des Willens, der in Analogie zum Politischen nicht nur als Plu-
ralität, sondern auch als Verhältnis von Befehl und Gehorsam verstanden wird
(vgl. NK 32, 22-31). Mit der Einheit des Willens ist auch die Idee einer ursprüng-
lichen Einheit des Subjekts preisgegeben (vgl. zum Zusammenhang Cowan
2005, 51 f.). Freiheit des Willens ist demzufolge nur ein Schein, eine falsche
Ableitung aus einem begleitenden Lustempfinden.
Auf andere französische Quellen, die gegen Schopenhauer einen wissen-
schaftlichen Willensbegriff vertreten und ihn plural verstehen, weist Campioni
2009, 59 f. hin. Namentlich bei Theodule Ribot und James Sully konnte N. ent-
sprechende Überlegungen finden (vgl. z. B. Sully 1882, 194-223). Vgl. zur Wil-
lensfreiheit und Notwendigkeit NK 148, 14 f.
33, 26 f. unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen] Vgl. NK 27, 9-
18. Der Begriff des „Gesellschaftsbaus“ kommt bei N. nur in JGB 12 und JGB 19
vor; er ist auch nicht in Grimms Deutschem Wörterbuch belegt, obwohl er im
19. Jahrhundert gelegentlich im politischen Kontext verwendet wurde - eben
zur Kennzeichnung sozialer Organisation und Struktur. In der Version von JGB
12 sowie in der Druckmanuskript-Schlussvariante von JGB 19 (vgl. NK 33, 32-
34, 3) wird mit akzentuierenden Anführungszeichen die „Seele“ selbst als „Ge-
sellschaftsbau der Triebe und Affekte“ begriffen, während in 33, 26 f. der
„Leib“ als „Gesellschaftsbau“ „viele Seelen“ inkorporiert. Die Änderung des
Schlusses von JGB 19 begradigt einen möglichen Widerspruch. Doch ist unver-
kennbar, dass sich trotz mannigfacher Aufhebungsversuche nicht nur der Be-
griffsdualismus Leib/Seele in N.s Sprachgebrauch hartnäckig hält, obwohl er
mit dem Gedanken einer Seelen-Inkorporation konfligiert, sondern auch, dass
die Vorstellungen, wie denn der Mensch als Einheit gedacht werden soll, in
den Denkangeboten des Ersten Hauptstücks von JGB fließend bleiben: Ist der
Mensch jetzt ein multianimalisches Wesen - mit dem Leib als Kohärenzprin-
zip - oder doch nur ein multiaffektives Wesen - mit einer Seele als Kohärenz-
prinzip? Für beide Varianten gilt jedenfalls, dass er als eine multiple Persön-
lichkeit verstanden werden muss, deren Multiplizität durch eine zentripetale
Kraft (trotz angeblicher Zentrumslosigkeit) vor dem Zerfall bewahrt wird, wel-
che man „Wille“ nennen mag und die nach dem Schema von Befehlen und
Gehorchen geregelt ist.
33, 28 L’effet c’est moi.] Französisch: „Die Wirkung, das bin ich.“ Für diese
knappe Formel eines synthetischen Verständnisses des Ich (vgl. 33, 5) lässt sich
keine direkte Vorlage belegen. Natürlich ist die Sentenz dem angeblichen, aber
 
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