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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0222
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202 Jenseits von Gut und Böse

rer specifischen Anschauungsart bedingte Manifestation eines an sich un-
räumlichen, rein intensiven Seins und Geschehens. / Hieraus resultirt der Ge-
danke, unsere galilei-neutonische, im Rahmen des absoluten Raumes con-
struirte Mechanik sei vielleicht nicht, wofür sie gehalten zu werden pflegt,
eine Aetiologie des absolut Realen, sondern bloße Semiotik der
für Menschen wahrnehmbaren Symptome des Realen. Mögli-
cherweise verhält sie sich, bei aller ihrer inneren Correctheit, zum absolut Rea-
len doch nur so, wie die mit schwarzen Punkten auf’s Papier gedruckte Noten-
schrift zu dem klangvollen Tonmeer der Musik. Dies aber überträgt sich von
selbst auf unsere gesammte mechanische Naturphilosophie. Wieweit
sie eigentlich mit ihren mathematischen Diagnosen unter die Oberfläche der
Erscheinungen hinabdringt, wissen wir durchaus nicht. Möglicherweise bleibt
ihr die metaphysische Wurzel der uns gegebenen räumlichen Phänomenalwelt
vollständig unerfaßbar.“ (Liebmann 1882, 85 f. N.s Unterstreichungen, auf
S. 86 mehrere doppelte Randmarkierungen von seiner Hand. Vgl. Loukidelis
2007b, 394; Riccardi 2014, 254 u. Pichler 2014b, 177.) Die Pointe der „Zeichen-
Welt“ von JGB 21 besteht darin, dass sie nicht nur Begriffe der Physik und
Ontologie einbegreift, sondern ebenso solche des menschlichen Selbstver-
ständnisses und des menschlichens Handelns: Alles trägt das Anzeichen rei-
nen Zeichencharakters.
36, 12-31 Der „unfreie Wille“ ist Mythologie: im wirklichen Leben handelt es
sich nur um starken und schwachen Willen. — Es ist fast immer schon ein
Symptom davon, wo es bei ihm selber mangelt, wenn ein Denker bereits in aller
„Causal-Verknüpfung“ und „psychologischer Nothwendigkeit“ etwas von Zwang,
Noth, Folgen-Müssen, Druck, Unfreiheit herausfühlt: es ist verrätherisch, gerade
so zu fühlen, — die Person verräth sich. Und überhaupt wird, wenn ich recht
beobachtet habe, von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber immer auf
eine tief persönliche Weise die „ Unfreiheit des Willens“ als Problem gefasst:
die Einen wollen um keinen Preis ihre „Verantwortlichkeit“, den Glauben an
sich, das persönliche Anrecht auf i h r Verdienst fahren lassen (die eitlen Ras-
sen gehören dahin — ); die Anderen wollen umgekehrt nichts verantworten, an
nichts schuld sein und verlangen, aus einer innerlichen Selbst-Verachtung heraus,
sich selbst irgend wohin abwälzen zu können. Diese Letzteren pflegen sich,
wenn sie Bücher schreiben, heute der Verbrecher anzunehmen; eine Art von soci-
alistischem Mitleiden ist ihre gefälligste Verkleidung.] Der Akzent wird nach der
Subversion der alten Unterscheidung von freiem und unfreiem Willen neu ge-
setzt. Die leitende Unterscheidung ist nun diejenige zwischen „starke[m]
und schwache[m] Willen“ (vgl. GM 113, KSA 5, 278-281). Die Starkwilligen
wollen „Verantwortlichkeit“ - den Begriff hat N. sich bei Eduard von Hartmann
markiert (vgl. NK 35,10-20) -, während die Schwachwilligen diese Verantwort-
 
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