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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0254
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234 Jenseits von Gut und Böse

telkeit sieht, sucht und sehn will, als seien es die eigentlichen und einzigen
Triebfedern der menschlichen Handlungen; kurz, wo man „schlecht“ vom Men-
schen redet — und nicht einmal schlimm —,da soll der Liebhaber der Erkennt-
niss fein und fleissig hinhorchen, er soll seine Ohren überhaupt dort haben, wo
ohne Entrüstung geredet wird.] Die imaginäre Mischwesen-Zoologie, die für das
satyrische Genie Galiani unter Anwendung des satirischen Handwerks, den-
noch überaus wohlwollend Klassifikationsbegriffe suchte, wird fortgesetzt mit
der gleichfalls chimärisch-monströsen - damals gängige darwinistische Ab-
stammungstheorien satirisierenden - Kombination Menschenwissenschaftler-
kopf/Affenleib. Die als erklärende Apposition dazu erscheinende Paarung „fei-
ner Ausnahme-Verstand“/,»gemeine Seele“ sorgt als Erklärung freilich eher für
Verwirrung, weil die der ersten Paarung zugrunde liegende Körper-Geist-Duali-
tät nun von einer Geist-Seele-Dualität hintertrieben wird. Dies wiederum lässt
sich als Hinweis darauf lesen, dass es sich der „auserlesene Mensch“ keines-
wegs mit dem Menschen so leicht machen sollte wie es die Cyniker, aber eben
auch die „Ärzte“ und „Moral-Physiologen“ tun: Ihre Anthropologie soll nicht
normativ sein, sondern inspirativ, weil abkürzend, damit vorläufig. Mit „Moral-
Physiologen“, die menschliche Lebensregungen auf Eitelkeit, Sexual- und Nah-
rungstrieb zurückzuführen pflegten, war N. nicht nur dank antiker Kyniker,
französischer Moralisten, sondern auch durch Hobbes, Schopenhauer und Ree
gut vertraut.
Zur „Geschlechts-Begierde“ notierte Karl Jaspers am Rand: „Freud“ (Nietz-
sche 1923, 45), zur „Eitelkeit“: „Ree“ (Nietzsche 1923, 46).
45,17-23 Denn der entrüstete Mensch, und wer immer mit seinen eignen Zähnen
sich selbst (oder, zum Ersatz dafür, die Welt, oder Gott, oder die Gesellschaft)
zerreisst und zerfleischt, mag zwar moralisch gerechnet, höher stehn als der la-
chende und selbstzufriedene Satyr, in jedem anderen Sinne aber ist er der ge-
wöhnlichere, gleichgültigere, unbelehrendere Fall. Und Niemand lügt soviel als
der Entrüstete. —] Als Repräsentant einer solchen Entrüstung galt bei N. z. B.
der Sozialist, vgl. die in NK KSA 6, 130, 27-134, 12 mitgeteilte Aufzeichnung.
Entrüstung bringt Ressentiment hervor, gerade dort, wo sie sich nicht nach
außen abreagieren kann. In dieser Auffassung bestätigt finden konnte sich N.
nach dem Erscheinen von JGB durch die Lektüre von Georg Brandes, der auf
Henrik Ibsen die Formel „Entrüstungspessimismus“ münzte (Brandes 1887,
429, vgl. NK KSA 6, 306, 34-307, 4).
27.
Dieser kurze Abschnitt lebt zum einen von der Pointe, dass er das darin Be-
hauptete, das sprechende Ich tue „Alles, um selbst schwer verstanden zu wer-
 
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