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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0299
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Stellenkommentar JGB 36, KSA 5, S. 54 279

viel besser wissen und verstehen, als sonst irgend etwas, was immer es auch sei.
[...] Hingegen der Begriff Wille ist der einzige, unter allen möglichen, welcher
seinen Ursprung nicht in der Erscheinung, nicht in bloßer anschaulicher Vorstel-
lung hat, sondern aus dem Innern kommt, aus dem unmittelbarsten Bewußtseyn
eines Jeden hervorgeht, in welchem dieser sein eigenes Individuum, seinem We-
sen nach, unmittelbar, ohne alle Form, selbst ohne die von Subjekt und Objekt,
erkennt und zugleich selbst ist, da hier das Erkennende und das Erkannte zu-
sammenfallen. Führen wir daher den Begriff der Kraft auf den des Willens
zurück, so haben wir in der That ein Unbekannteres auf ein unendlich Bekannte-
res, ja, auf das einzige uns wirklich unmittelbar und ganz und gar Bekannte zu-
rückgeführt und unsere Erkenntniß um ein sehr großes erweitert.“ (Schopen-
hauer 1873-1874,2,133. Vgl. dazu auch Lopes 2012,149-151; zum Ich, das sich als
Wille erfährt, siehe Drossbach 1884,15, zitiert in NK 30,19-22.) Die Schopenhau-
erianer sind diejenigen, für die nur die „Welt der Begierden und Leidenschaften“
„gegeben“ ist; sie vollziehen im Übrigen auch den weiteren, in der Versuchsan-
ordnung von JGB 36 im Fragemodus beschriebenen Schritt, alles, auch das Anor-
ganische, im Kern für Willen zu halten. Die Nähe zu Schopenhauer machen auch
andere Nachlassüberlegungen deutlich, die etwa wie in Schopenhauer 1873-
1874,2,133 Kraft und Wille miteinander abgleichen und den „Willen zur Macht“
als Generalnenner eines adäquaten Wirklichkeitsverständnisses zu propagieren
scheinen (NL 1885, KSA 11, 36[31], 563 = KGW IX 4, W I 4, 26). Wille entspringt
also bei Schopenhauer wie in JGB 36 der Selbsterfahrung (dazu ausführlich Con-
stäncio 2013b, 153-156), mit dem gewichtigen Unterschied allerdings, dass JGB
36 die Folgerung am „Leitfaden des Leibes“ (so öfters im Nachlass von NL 1884,
KSA 11, 27[27], 282,19 an, jedoch nie explizit in JGB) auf die Beschaffenheit der
„Welt“ nur probehalber vollzieht, und sich dort keineswegs ein freigeistiges Ich
dazu bekennt.
Wer vom experimentell Gesetzten über das innerhalb des Experimentes Ge-
gebenen fortschreitet, dem wird schließlich auch ein Gebotenes zugemutet: Es
sei nicht nur erlaubt, den „Versuch“ einer Rückführung der mechanischen, un-
belebten Welt auf „eine Art von Triebleben“ (55, 2) zu machen, sondern sogar,
„vom Gewissen der Methode aus, geboten“ (55, 6f.). Dass dieses Gebot mehr
erschlichen als erschlossen ist, steht dahin. Interessant ist die Steigerung von
„gesetzt“ über „gegeben“ bis zu „geboten“: Aus der hypothetischen Setzung
folgt zunächst eine Gegebenheit, aus dieser wiederum ein Sollen - und doch
bleibt alles Gesagte hypothetisch eingeklammert.
54, 26-55, 5 Ich meine nicht als eine Täuschung, einen „Schein“, eine „Vorstel-
lung“ (im Berkeley’schen und Schopenhauerischen Sinne), sondern als vom glei-
chen Realitäts-Range, welchen unser Affekt selbst hat, — als eine primitivere
Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger Einheit beschlossen
 
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