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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0298
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278 Jenseits von Gut und Böse

muß versuchen, sich alle Wirkungen als gleicher Art, wie Willensakte zu den-
ken, also die Hypothese machen, ob nicht alles mechanische Geschehen, inso-
fern eine Kraft darin ist, eben Willenskraft ist.“ (NL 1885, KSA 11, 40[37], 646,
23-647,15) Grundlegende Überlegungen aus JGB 36 sind hier bereits vorwegge-
nommen - namentlich die von Clark identifizierten zwei Prämissen -, hier je-
doch noch ohne jeden expliziten Ausblick auf den Willen zur Macht.
54,19-26 Gesetzt, dass nichts Anderes als real „gegeben“ ist als unsre Welt der
Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen „Realität“ hinab oder
hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe — denn Denken ist nur ein
Verhalten dieser Triebe zu einander — : ist es nicht erlaubt, den Versuch zu ma-
chen und die Frage zu fragen, ob dies Gegeben nicht ausreicht, um aus Sei-
nes-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder „materielle“) Welt zu
verstehen?] JGB 36 spielt mit Gesetztheit, Gegebenheit und Gebotenheit auf ver-
schiedenen Stufen: Zunächst wird mit dem dreimaligen „gesetzt“ (54, 9; 55,
23 u. 55, 26) die Versuchsanordnung bestimmt - vom „Versuch“-Machen wird
zweimal explizit gesprochen - : Die intellektuellen Experimentatoren setzen
etwas, sie nehmen etwas an, aber eben nur für den gewählten experimentellen
Rahmen. Anders verhält es sich innerhalb des Experimentes selbst, quasi auf der
Objekt- statt auf der Metaebene. Dort wird von Gegebenem ausgegangenen, ge-
nauer davon, dass nur die Begierdenwelt „als real,gegeben“4 (54,19) angespro-
chen werden könnte, und von der Frage, ob man „dies Gegeben“ (54, 24) als
Grundlage dafür nehmen könne, die „mechanistische ([...]) Welt zu verstehen“
(54, 25 f.). Gemeint ist offenbar die Sphäre des Anorganischen. Auf dieser Ebene
ist das, was „gegeben“ ist, nicht kontextabhängig, sondern soll absolut gelten -
aber nur für diejenigen, die sich auf dieser Ebene bewegen und keineswegs für
den „freien Geist“. JGB 36 lässt sich als exemplarische Inszenierung der Denk-
und Handlungsweise eines freien Geistes verstehen - dem das Zweite Haupt-
stück ja gewidmet ist -, einer Denk- und Handlungsweise, die jede Sicherheit im-
mer wieder entzieht. Das Philosophen-Subjekt N. würde sich schwerlich zur fel-
senfesten Überzeugung bereitfinden, ausschließlich „unsre Welt der Begierden
und Leidenschaften“ (54,19 f.) sei „real »gegeben4“, nachdem JGB 16 eben noch
gegen den „Aberglauben Schopenhauer’s“, nämlich gegen das ,„ich will4“ als
„»unmittelbare Gewissheit[..] 444 (KSA 5, 29,19-21) polemisiert hat. Diese „unmit-
telbare Gewissheit“ bestand ja für Schopenhauer gerade darin, dass wir uns als
Willen erleben (vgl. zum Bezug auf JGB 36 Janaway 2007,155); entsprechend em-
pathisch führte er im 2. Buch des 1. Bandes der Welt als Wille und Vorstellung
(§ 22) aus: „Nun aber bezeichnet das Wort Wille, welches uns, wie ein Zauber-
wort, das innerste Wesen jedes Dinges in der Natur aufschließen soll, keines-
wegs eine unbekannte Größe, ein durch Schlüsse erreichtes Etwas; sondern ein
durchaus unmittelbar Erkanntes und so sehr Bekanntes, daß wir, was Wille sei,
 
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