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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0692
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672 Jenseits von Gut und Böse

Achtes Hauptstück: Völker und Vaterländer.
Das Achte Hauptstück suggeriert in seinem Titel eine politische Agenda, wobei
die beiden Begriffe „Völker“ und „Vaterländer“ gerade keine letzte Bezugsgröße
abgeben in der Denkdynamik des gleich mit dem allerersten Wort des ersten
Abschnitts in Erscheinung tretenden „Ichs“ (JGB 240, KSA 5, 178, 4). Dieses
„Ich“ verweigert sich den unter seinen Zeitgenossen gängigen nationalen und
patriotischen Identifikationen, macht weder mit den Deutschen, noch mit an-
deren Völkern gemeinsame Sache, sondern kontrastiert die politisch-militäri-
schen Antagonismen der Staaten mit ihren inneren Widersprüchen und Bor-
niertheiten. Es tut alles dafür, nicht auf irgendeinen politischen Standpunkt
festgelegt zu werden (vgl. Müller 2014, 171). Diese Strategie ist so erfolgreich,
dass auch das Bekenntnis des „Wir“, ,„gute Europäer“4 (JGB 241, KSA 5, 180,
18) zu sein, sich nicht klar positiv profiliert, wenn auch angesichts der wieder-
holten antidemokratischen Invektiven die Vermutung naheliegt, dass es poli-
tisch autoritär gemeint sein soll. Grundiert ist die rastlose Bewegung im Raum
des Politischen mit Urteilen zur Musik, deren Bezug zum Volkscharakter gleich
in JGB 240 schon an Wagner exemplifiziert wird, bevor auch der letzte Ab-
schnitt JGB 256 wieder auf Wagner zu sprechen kommt (vgl. Müller 2014, 169 f.
u. 172-175). Politisches wird im Achten Hauptstück als Politikvermeidung in-
szeniert, zumal die überpointierten Völkercharakterisierungen den völkerpsy-
chologischen Zeitdiskurs ironisch karikieren. Politisch verweigert das Achte
Hauptstück letzte Lehren, um stattdessen die Einübung einer Haltung, nämlich
der Distanznahme zu empfehlen und zu betreiben.
240.
Aus Mp XVI 1 teilt KSA 14, 368 folgende „erste Fassung“ mit: „Ich hörte die
Ouvertüre der Meistersinger: das ist eine prachtvolle, überladne, schwere und
späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Verständnisse zwei Jahrhunderte
Musik als noch lebendig vorauszusetzen: - es ehrt die Deutschen, daß sich ein
solcher Stolz nicht verrechnete! Was für Metalle sind hier nicht gemischt! Das
muthet uns bald alterthümlich, bald morgenröthlich, bald gelehrt, bald impre-
vu und launisch, bald pomphaft, bald gutmüthig derb und männlich an - das
hat Unschuld und Verdorbenheit, da giebt es alle Jahreszeiten auf Einmal, al-
lerlei Knospen-Glück und ebenso allerlei Wurmfraß und Spätherbst. Es giebt
auch Augenblicke unerklärlichen Zögerns, gleichsam die Lücken, die zwischen
Ursache und Wirkung aufspringen, es fehlt ein kleiner Alpdruck nicht und was
dergleichen uns im Traume schon begegnet ist: - und nun wieder breitet und
weitet sich ein Strom von Behagen aus, eingerechnet der Selbstgenuß des
 
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