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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0234
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214 Jenseits von Gut und Böse

Zweites Hauptstück: der freie Geist.
Das Zweite Hauptstück heißt nicht „wir freien Geister“ - während das Sechste
Hauptstück „wir Gelehrten“ heißt - sondern schlicht „der freie Geist“ im Singu-
lar und ohne Personalpronomen. Spricht N. darin über sich oder/und über
künftiges Philosophieren? Gilt fraglos, was Volker Gerhardt in seiner eingehen-
den Analyse stipuliert hat? „Das zweite Hauptstück von Jenseits von Gut und
Böse ist eine erklärte Selbstpräsentation eines »freien Geistes4: Ein Autor, der
sich selbst als »freien Geist4 begreift, versucht dem Leser nahezubringen, was
ein »freier Geist4 ist und wie er sich versteht.“ (Gerhardt 2014, 59) Im Zweiten
Hauptstück führt ein „Wir“ emphatisch das Wort und bekennt sich im letzten
Abschnitt sogar ausdrücklich als ,„freie[.] Geister4“ (JGB 44, KSA 5, 62, 6). Aber
diese freien Geister, deren Profil auch die Vorrede zur zweiten Auflage von
Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister von 1886 umreißt
und wie in JGB 44 von den herkömmlichen Freigeistern unterschieden wissen
will (vgl. besonders MA I Vorrede 2, KSA 2, 15), scheinen noch nicht die Philo-
sophen der Zukunft zu sein, die noch vieles mehr sein werden als bloß freie
Geister (vgl. JGB 44, KSA 5, 63, 8-10, zum Begriff des freien Geistes Gerhardt
2014, 50-59 und ausführlich die Beiträge in Bamford 2015). Strauss 1983, 175 f.
stellte mit Recht die Frage, ob die freien Geister vielleicht freier seien als die
Philosophen der Zukunft, nämlich mit der „openness“ eines Übergangszeital-
ters ausgestattet, die sich unter neuen Umständen wieder verliert. Denn diese
Zukunftsphilosophen sollen nach der hier vorgetragenen Prognose dezidiert
als Gesetzgeber auftreten. In seinen letzten Schriften von 1888 trug N. diese
Gesetzgeberrolle auch in den Typus der „freigewordenen Geister“ ein (siehe
NK KSA 6, 209, 20-23) - diese scheinen den Philosophen der Zukunft sehr viel
näher zu kommen als das „Wir“ von 1886. Dieses „Wir“ bewegt sich in einem
Zwischenreich: jenseits der alten Freigeisterei mit ihren demokratisch-egalitä-
ren, modernen Ideen, aber diesseits der Zukunftsphilosophen, obgleich auch
das „Wir“ von 1888 in seiner antichristlichen und antimoralischen Gesetzge-
bung noch im Modus der Negation bleibt. Aber wer und was sind die freien
Geister in JGB? Das Zweite Hauptstück zählt einige Züge auf, die das „Wir“ als
Freigeister charakterisieren, aber diese Aufzählung erscheint ungeordnet, als
ob noch kein Zukunftsphilosoph Ordnung geschaffen hätte.
Der bevorzugte Sprechmodus des „Wir“ ist der Konjunktiv II („gesetzt“ ...).
Das „Wir“ trifft sich freilich mit der ,,neue[n] Gattung von Philosophen“ (JGB
42, KSA 5, 59, 24) darin, dass es als „Versucher44 (KSA 5, 59, 29) auftritt, und
zwar als Versucher im doppelten Wortsinn: Experimentator und Temptator. Es
versucht alles Denkmögliche und führt die Leser in Versuchung, in Versuchung
des Denkens. Gilt Analoges nicht auch von JGB als Buch insgesamt? Ist es nicht
 
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