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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0235
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Stellenkommentar JGB 24, KSA 5, S. 41 215

ein experimentierendes und versucherisches Werk, wobei es wesentlich vom
Leser abhängt, wie ein Buch (auf ihn) wirkt (vgl. JGB 30, KSA 5, 49, 3-12)? Das
korrespondiert mit JGB 43 und dem dort artikulierten Antidogmatismus: Meine
Wahrheit ist nicht die Wahrheit meines Nebenmenschen; Wahrheiten und Per-
spektiven diversifizieren sich. Das Zweite Hauptstück lässt sich als Einübung
in Perspektivenvervielfältigung lesen: Wer Perspektiven zu vervielfältigen ver-
mag, erwiese sich dann als jener freie Geist, den der Titel auf- und anruft.

24.
Eine Vorüberlegung zu diesem Abschnitt stellt NL 1881, KSA 9, 15 [1], 633 dar.
Dort zeigt sich die „Vereinfachung“ (KSA 9, 633, If.) besonders im Feld
der Moral; „die Wissenschaft“ (ebd., 7) beruht zwar gleichfalls auf dieser Ver-
einfachung, entlarvt sie dann aber in geduldiger Arbeit, während JGB 24 stär-
ker herausstellt, dass die Wissenschaft „uns“ (KSA 5, 41, 26) in der vereinfach-
ten Welt festhalten wolle. Einen ,,Wille[n] zum Wissen“ oder einen ,,Willen[.]
zum Nicht-wissen“ (KSA 5, 41, 16 f.) kennt die Aufzeichnung von 1881 noch
nicht, auch keinen Abschied vom Denken in Gegensätzen, dafür aber die in
der gelehrten Praxis vollzogene Sublimation des Bösen zu Tugenden (KSA 9,
633, 29 f.).
Eine genaue Analyse von JGB 24 bietet Endres 2013, der argumentiert, dass
dieser Abschnitt das im Titel „Jenseits von Gut und Böse“ gegebene Verspre-
chen, ein Jenseits der Gegensätze zu denken, exemplarisch (sprachlich) umzu-
setzen versuche. Dabei benenne „dieses Jenseits des Jenseits4 bei Nietzsche
weder eine Überwindung oder Aufhebung der Gegensätze [...], noch eine Meta-
Position des Sprechens“ (ebd., 233). Weil man die Zwänge von Logik und Gram-
matik nicht überwinden könne, erscheint die „Verfeinerung“ (KSA 5, 41,19) als
Strategie der Wahl, um Logik und Grammatik wenigstens zu problematisieren.
Nach Endres vollzieht JGB 24 eine solche Verfeinerung im Schreib- und Reflexi-
onsprozess geradezu idealtypisch.
41, 4 0 sancta simplicitas!] Lateinisch: „0 heilige Einfalt!“. N. bemühte die
Wendung erstmals in MA 167: „Sancta simplicitas der Tugend. — Jede
Tugend hat Vorrechte: zum Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen eines Verur-
theilten ihr eigenes Bündchen Holz zu liefern.“ (KSA 2, 80, 9-11). Sie kehrt
wieder in NL 1882, KSA 10, 3[1]379, 99, 11 f.: „Man nehme sich vor der sancta
simplicitas in Acht: sie ist es, die das Holz zu allen Scheiterhaufen gehäuft
hat.“ Eingedeutscht findet sich das Motiv schließlich in Za I Vom Wege des
Schaffenden, KSA 4, 82, 9-11: „Hüte dich auch vor der heiligen Einfalt! Alles
ist ihr unheilig, was nicht einfältig ist; sie spielt auch gerne mit dem Feuer -
 
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