Stellenkommentar JGB 23, KSA 5, S. 38-39 213
39, 4f. es ist nicht das sacrifizio dell’intelletto, im Gegentheil!] Ein sacrificium
intellectus oder „Opfer des Intellekts“ erbringt derjenige, der seine Vernunft
dem (blinden) Glauben unterwirft. Ein solches Opfer wurde bereits von man-
chen Kirchenvätern verlangt (vgl. z. B. NK KSA 6, 229, TI f.), bevor Ignatius von
Loyola es dem Jesuitenorden verordnet hat. Die lateinische Formel benutzte N.
zur kritischen Selbstcharakterisierung - „Fälschung der Wahrheit zu Guns-
ten der Dinge, die wir lieben“ - im Blick auf seine frühe Wagner-Lobhu-
delei in UB IV WB: „Und oft war es ein so schweres Opfer für euch, sacrificium
intellectus propter amorem! Ach ich selber habe es gelobt! W(agner} i(n} B(ay-
reuth}“ (NL 1880, KSA 9, 5[14], 184, 1-7). Ansonsten bediente sich N. der italie-
nischen Version, auch wenn es keinen Italien-Bezug gibt, wie in JGB 229, KSA
166, 31, wo von Blaise Pascals „sacrifizio dell’intelletto“ gehandelt wird. Be-
kanntlich war der jansenistisch inspirierte Pascal ein wütender Gegner der Je-
suiten, was aber nichts an dem vom Christentum insgesamt geforderten Opfer
ändert. Im Nachlass ist die spezifisch jesuitische Färbung des Begriffs freilich
vermerkt: ,„Du sollst dich ausbeuten, bestehlen, belügen lassen4 — Grundge-
fühl des katholischen Priesterstaats, speziell vollkommen im Jesuitism. sac-
rificio dell’intelletto uralt und ursprünglich“ (NL 1883, KSA 10, 8[12], 334, 7-
10; MA II WS 272, KSA 2, 670, 24 f. kehrt die Wendung um in „intelletto del
sacrifizio“). Die italienische Fassung verweist aber nicht auf apokryphe italie-
nische Lektüren N.s; vielmehr wurde diese Fassung im Zuge der antimodernis-
tischen Kirchenpolitik von Papst Pius IX. zum geflügelten Wort: Die Katholiken
sahen sich gezwungen, angesichts des vom Ersten Vatikanischen Konzil (1869/
70) verkündeten Dogmas von der päpstlichen Unfehlbarkeit dieses Opfer ihres
Intellektes zu erbringen. Entsprechend stand schon bald der „sacrificio dell’in-
telletto“ unter Hinweis auf diesen Kontext in Büchmanns Geflügelten Worten
(Büchmann 1882, 425). Auch im philosophischen Bereich wurde er gerne be-
nutzt, so bei N.s ehemaligem Basler Kollegen Gustav Teichmüller: „Man kann
desshalb, wenn man den Unsterblichkeitsglauben bei Plato festhalten will,
nicht umhin, ihn aus einem Philosophen zu einem schwächlichen, abergläubi-
schen Gemüthsmenschen zu machen, der in Sachen der Religion seine wissen-
schaftliche Ueberzeugung unterdrückt und sich mit dem sacrificio del intelletto
den geheimnissvollen und unglaublichen Sprüchen alter Priesterüberlieferung
unterwirft.“ (Teichmüller 1876, 3) Der Psychologe in JGB 23 opfert gerade nicht
seinen Intellekt dem Glauben, sondern umgekehrt seinen Glauben, seine Mo-
ralvorstellung dem Intellekt, der unverstellten Erkenntnis. Schon nach JGB 12,
KSA 5, 27, 18f. ist „der neue Psycholog“, derjenige, der „dem Aberglauben
ein Ende bereitet“.
39, 4f. es ist nicht das sacrifizio dell’intelletto, im Gegentheil!] Ein sacrificium
intellectus oder „Opfer des Intellekts“ erbringt derjenige, der seine Vernunft
dem (blinden) Glauben unterwirft. Ein solches Opfer wurde bereits von man-
chen Kirchenvätern verlangt (vgl. z. B. NK KSA 6, 229, TI f.), bevor Ignatius von
Loyola es dem Jesuitenorden verordnet hat. Die lateinische Formel benutzte N.
zur kritischen Selbstcharakterisierung - „Fälschung der Wahrheit zu Guns-
ten der Dinge, die wir lieben“ - im Blick auf seine frühe Wagner-Lobhu-
delei in UB IV WB: „Und oft war es ein so schweres Opfer für euch, sacrificium
intellectus propter amorem! Ach ich selber habe es gelobt! W(agner} i(n} B(ay-
reuth}“ (NL 1880, KSA 9, 5[14], 184, 1-7). Ansonsten bediente sich N. der italie-
nischen Version, auch wenn es keinen Italien-Bezug gibt, wie in JGB 229, KSA
166, 31, wo von Blaise Pascals „sacrifizio dell’intelletto“ gehandelt wird. Be-
kanntlich war der jansenistisch inspirierte Pascal ein wütender Gegner der Je-
suiten, was aber nichts an dem vom Christentum insgesamt geforderten Opfer
ändert. Im Nachlass ist die spezifisch jesuitische Färbung des Begriffs freilich
vermerkt: ,„Du sollst dich ausbeuten, bestehlen, belügen lassen4 — Grundge-
fühl des katholischen Priesterstaats, speziell vollkommen im Jesuitism. sac-
rificio dell’intelletto uralt und ursprünglich“ (NL 1883, KSA 10, 8[12], 334, 7-
10; MA II WS 272, KSA 2, 670, 24 f. kehrt die Wendung um in „intelletto del
sacrifizio“). Die italienische Fassung verweist aber nicht auf apokryphe italie-
nische Lektüren N.s; vielmehr wurde diese Fassung im Zuge der antimodernis-
tischen Kirchenpolitik von Papst Pius IX. zum geflügelten Wort: Die Katholiken
sahen sich gezwungen, angesichts des vom Ersten Vatikanischen Konzil (1869/
70) verkündeten Dogmas von der päpstlichen Unfehlbarkeit dieses Opfer ihres
Intellektes zu erbringen. Entsprechend stand schon bald der „sacrificio dell’in-
telletto“ unter Hinweis auf diesen Kontext in Büchmanns Geflügelten Worten
(Büchmann 1882, 425). Auch im philosophischen Bereich wurde er gerne be-
nutzt, so bei N.s ehemaligem Basler Kollegen Gustav Teichmüller: „Man kann
desshalb, wenn man den Unsterblichkeitsglauben bei Plato festhalten will,
nicht umhin, ihn aus einem Philosophen zu einem schwächlichen, abergläubi-
schen Gemüthsmenschen zu machen, der in Sachen der Religion seine wissen-
schaftliche Ueberzeugung unterdrückt und sich mit dem sacrificio del intelletto
den geheimnissvollen und unglaublichen Sprüchen alter Priesterüberlieferung
unterwirft.“ (Teichmüller 1876, 3) Der Psychologe in JGB 23 opfert gerade nicht
seinen Intellekt dem Glauben, sondern umgekehrt seinen Glauben, seine Mo-
ralvorstellung dem Intellekt, der unverstellten Erkenntnis. Schon nach JGB 12,
KSA 5, 27, 18f. ist „der neue Psycholog“, derjenige, der „dem Aberglauben
ein Ende bereitet“.