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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0315
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Stellenkommentar JGB 40, KSA 5, S. 57 2 95

chen) Subjekte auf, die über die Tunlichkeit von Masken nachdenken, sondern
es findet eine völlige ,Versachlichung4 mit der unpersönlichen Konstruktion
„Alles, was ...“ (nicht: alle, die ...) statt, gesteigert noch in der Rede von den
„allertiefsten Dingen“ im zweiten Halbsatz. Erst im Laufe von JGB 40 werden
diese „Dinge“ (über den Umweg Gottes) vermenschlicht („ein Mensch“ - KSA
5, 58,10). Person in einem modernen Sinn ist demnach nichts Gegebenes, son-
dern etwas Gemachtes - bekanntlich war die persona im antiken Theater selbst
die die Figur charakterisierende Maske. JGB 40 operiert tatsächlich nicht mit
feststehenden Subjekten, die etwas zu verbergen haben, sondern mit „Dingen“
im maskeradischen Wechselspiel ihrer Erscheinungsformen.
57, 27-29 Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung sein, in der
die Scham eines Gottes einhergienge?] In JGB 66 kehrt der Gedanke göttlicher
Scham wieder, die nach JGB 295 Dionysos fehle (vgl. NK 239,1 f.); in NK 85,17-
19 werden auch die Vorarbeiten aus dem Nachlass von 1882 erörtert. Zu ihrer
Erläuterung des Schambegriffs bei N. greifen Müller 2013, 251 und Tongeren
2007, 144 f. auf NL 1883, KSA 10, 7[161], 295, 5-13 zurück, wo der griechische
Begriff Aiödx; diskutiert wird, nämlich als „die Regung und Scheu, nicht Götter,
Menschen und ewige Gesetze zu verletzen: also der Instinkt der Ehrfurcht
als habituell bei dem Guten. Eine Art Ekel vor der Verletzung des Ehrwürdi-
gen. [...] Es ist die Verletzung des Aidos ein schrecklicher Anblick für den, wel-
cher an Aidos gewöhnt ist.“ Das Problem beim Gebrauch dieser Aufzeichnung
für die Interpretation von JGB 40 besteht freilich nicht nur darin, dass hier
keineswegs, wie Tongeren 2007, 144 behauptet, die „Scham explizit als aidos
bezeichnet“ wird - vielmehr kommt das Wort „Scham“ in der ganzen Aufzeich-
nung nicht vor -, sondern auch darin, dass es sich hier keineswegs, wie Müller
2013, 251, Fn. 12 behauptet, „um Nietzsches eigene Definition des hellenischen
aidos-Begriffs“ handelt. NL 1883, KSA 10, 7[161], 295 ist ein zuspitzendes Ex-
zerpt aus Leopold Schmidts Ethik der alten Griechen, in der ausgiebig die Aidos
und ihre Differenz zu Aischyne behandelt und mit demselben Begriffsvokabu-
lar umschrieben wird, das N. verwendete (Schmidt 1882,1,168-188. Vgl. Orsuc-
ci 1996, 254-260). Während N. das Wort Scham ganz weglässt, wollte Schmidt
es gerade nicht auf Aidos, sondern auf Aischyne anwenden, die wiederum in
N.s Exzerpt entfällt. „Mit dem Namen Aidos bezeichneten die Griechen das
Streben Anderen, denen aus irgend einem Grunde Ehrerbietung gezollt wird,
nicht wehe zu thun, mit dem Namen Aischyne die Scheu sich selbst Tadel
zuzuziehen, jene wurzelt also in der Reflexion auf das fremde, diese in der auf
das eigene Gefühl, jene kann im Ganzen mit Rücksicht, diese mit Schamgefühl
oder je nach Umständen mit Ehrgefühl übersetzt werden“ (Schmidt 1882, 1,
168). N., der diesen Satz mit einem Randstrich markiert hat, hatte also gute
Gründe, in seinem Exzerpt Aidos nicht mit „Scham“ gleichzusetzen, wie es
 
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